"Lichtspiel": Der neue Kehlmann

Lesenswert

(c) Rowohlt Verlag
Datum:
Di. 7. Nov. 2023
Von:
Alexander Schüller

Daniel Kehlmann: Lichtspiel. Roman. Hamburg: Rowohlt 2023; ISBN 978-3-498-00387-6, 26,00 Euro.

Das Buch steht im Belletristik-Regal der Religionspädagogischen Medienstelle und ist dort einseh- und ausleihbar. 

 

Seit dem Bestseller „Die Vermessung der Welt“ (2005) ist der neue „Kehlmann“ in Deutschland immer ein literarisches Ereignis. Monate im Voraus angekündigt, steigt unter den Leser*innen die Spannung, je näher das Erscheinungsdatum des Buches rückt, und viele freuen sich womöglich so wie ich selbst, wenn sie es bereits einen Tag vor dem offiziellen Publikationsdatum (10. Oktober) in Händen halten dürfen. 

Die Buchhandlungen rüsten sich für den zu erwartenden Ansturm, bestellen im Vorfeld gleich mehrere Exemplare, die größten vielleicht sogar 50 Bücher, und präsentieren sie an prominenter Stelle in ihrer Auslage. In jeder renommierten Tages- und Wochenzeitung erscheinen lange Besprechungen oder Interviews, länger als zu den meisten Romanen, die zeitgleich auf den Markt gebracht werden, und in Bibliotheken sind die Exemplare des Buches auf Monate hinaus vorbestellt. Trotz allen (Marketing-)Trubels um die Kehlmann-Bestseller stellt sich am Ende dennoch stets dieselbe Frage. Sie lautet – mit Marcel Reich-Ranicki gesprochen: Was taugt das Buch?

Die Augen fliegen nur so übers Papier
So viel sei bereits vorweggenommen: Der neue Kehlmann ist vor allem eines: ein Pageturner. Die 471 Seiten lassen sich rasch und mit wachsender Spannung lesen, gerade im zentralen Kapitel „Drinnen“ fliegen die Augen nur so über das Papier, da man wissen will, wie es weitergeht. Im Mittelpunkt des historischen Romans steht Georg Wilhelm Pabst, zusammen mit Fritz Lang, Ernst Lubitsch und Friedrich Wilhelm Murnau einer der großen Regisseure der Weimarer Republik, der u.a. Bertolt Brechts „Die Groschenoper“ auf die Leinwand brachte und nicht nur deshalb „der rote Pabst“ genannt wurde. Kehlmanns Roman verfolgt den Lebensweg des berühmten Regisseurs von der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, Pabsts anfänglichem Exil über seine späteren, im Nazi-Reich realisierten Filmprojekte, bis in die frühe Bundesrepublik hinein und präsentiert seinen Leser*innen aus personaler, allerdings immer wieder auktorial durchbrochener Erzählperspektive gleich mehrere verschiedene Blickwinkel auf das Geschehen, so von Pabst Frau Trude, seinem Sohn Jakob und seinem Assistenten Franz Wilzek.


Die Verkehrung der Verhältnisse
Fixpunkt der Erzählung bleibt aber Pabst selbst, dem wir zunächst (nach einem Vorspiel, bei dem Wilzek einen grotesken Fernsehauftritt absolviert) in seinem amerikanischen Exil begegnen. Pabst hadert mit seinem Schicksal, zwar als einer der berühmten europäischen Regisseure zu gelten, in den USA aber keinen Fuß auf den Boden zu bekommen. Seine Projekte sind Flops oder künstlerisch wertlos, seine „Entdeckung“ Louise Brooks schlägt eine Zusammenarbeit mit ihm aus. Da kommt es ihm gerade recht, dass ihn die Nachricht erreicht, seine Mutter sei schwerkrank und bitte um sein Kommen. Pabst, der Exilant, reist zurück in die Ostmark, wie Österreich jetzt heißt, und stellt rasch fest, dass sich die Verhältnisse verändert haben. In seiner Heimat haben die Brauen die Macht übernommen. Zu ihnen gehört auch Jerzabek, der auf dem Schloss der Pabsts Dienst tut und zum Leiter der NSDAP-Ortsgruppe aufgestiegen ist.
Jerzabek und seine Familie machen keinen Hehl daraus, wer nun das Sagen hat und nutzen jede Gelegenheit, die Dienstherren zu erniedrigen. Die Verkehrung der Verhältnisse, die das Unterste, die niedersten Instinkte, das Ressentiment, nach oben befördert, wird so in bizarrer Weise anschaulich. Pabst, zunächst ein Häuflein Elend, wird indes bald von den Machthabern für ihre propagandistischen Zwecke eingespannt und beginnt, wieder als Regisseur zu arbeiten. Besonders ausführlich schildert der Roman sein letztes Projekt unter dem Naziregime: die Dreharbeiten für den Film „Der Fall Molander“, der auf dem drittklassigen Roman des Nazi-Schriftstellers August Karrasch beruht und den Pabst nach eigener Auffassung zu einem filmischen Meisterwerk ausarbeitet.

 

Gesetz der totalen Propaganda
Kehlmanns Roman hat in seinem Perspektivreichtum und seiner Dialogführung selbst viel von einem Film und wird gewiss das Interesse der Branche auf sich ziehen. Er ist aber auch gedacht als Auseinandersetzung mit der Situation, mit den Möglichkeiten und Zwängen des Künstlers unter diktatorischen Verhältnissen und dem Gesetz der totalen Propaganda. Pabst erscheint in Kehlmanns Roman als besessener Filmemacher, der nur vorübergehend aus der Bahn geworfen wird und recht schnell das für ihn Beste aus seiner Zwangslage zu machen sucht. Dabei gerät er Kehlmann allerdings, aufs Ganze gesehen, allzu sehr zu einer typisierten Figur. Diese bis zur Groteske reichende Typisierung ist ein Stilmittel des Romans. Bei den Nebenfiguren (Leni Riefenstahl oder Joseph Goebbels) mag sie noch Sinn ergeben, bei der Hauptfigur eines fast 500 Seiten starken Buches fällt sie dagegen negativ ins Gewicht. Pabst ist bei Kehlmann ein allzu offensichtlich auf das eigene Schaffen fixierter Egomane, ein Künstler mit Scheuklappen, der um seines Werks willen nicht vor der Kollaboration mit einem verbrecherischen Regime zurückschreckt.

 

Fundierte Reflexion der Situation
Beim Dreh des Falls Morander wird er schließlich selbst schuldig (mehr wird hier nicht verraten). Zu seinem Verhalten trägt nicht wenig bei, dass Pabst das Filmen als Notlage im Modus des Normalzustands begreift. Mit dieser Auffassung, seiner prominentesten kunsttheoretischen Äußerung im Roman, lässt sich vieles, womöglich alles rechtfertigen. Als fundierte Reflexion der Situation eines Künstlers in einem autoritär regierten Reich taugt die Figur Pabst, wie Kehlmann sie anlegt, aufgrund ihrer Einseitigkeit aber nicht. Dafür ist der Roman, sind die Gespräche zu oberflächlich, zu sehr auf den Effekt hin geschrieben. Das ist – auch wenn man den Roman gerne liest – eine verpasste Chance, gerade bei einem literarischen Ereignis wie dem neuen „Kehlmann“.

 

Alexander Schüller