Florian Baab: Wie die Dampfmaschine das Fegefeuer löschte. Eine Reise durch die katholische Welt von gestern. Freiburg i.Br., Basel, Wien: Herder 2024; 176 Seiten, 22,00 €; ISBN 978-3-451-39876-6.
Das Buch ist in der Diözesanbibliothek unter der Signatur 72564 zur Einsichtnahme und Ausleihe bestellbar.
Katharina Gruber, geboren 1864 als fünftes Kind eines oberbayrischen Landwirts und von allen nur Kathl genannt, lässt sich gerne Heiligenlegenden vorlesen und freut sich jedes Jahr auf den 25. November, ihren Namenstag. Ihr gefällt Kaspar, der Sohn des Dorflehrers, aber nach dem Willen der Eltern wird sie wohl später den Habacher Franz heiraten müssen. So präzise diese Informationen über Kathl Gruber auch sein mögen, es gibt keine historische Quelle, die von ihr handelt. Denn sie ist eine fiktive Figur, eine repräsentative Katholikin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erdacht von Florian Baab, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der Universität Hamburg, für sein Buch über die katholische Welt von gestern.
Von dieser Welt, deren Rückgrat das einfache, religiös grundierte Leben der Landbevölkerung bildet, erzählen verschiedene Quellen. Baab hat einige davon ausgewertet, um zu zeigen, wie das katholische Milieu im deutschsprachigen Raum noch bis in die 1960er Jahre hinein tatsächlich ausgesehen hat. Unter den Quellen befinden sich alte Bekannte wie Oskar Maria Grafs Buch über die eigene Mutter oder Anna Wimschneiders „Herbstmilch“, aber auch Entlegeneres wie die Physikatsberichte der Bayerischen Landärzte über die „Religiöse Haltung des Volkes“ oder die Katholischen Gebetbücher für das Bistum Münster. Sie dienen Baab einerseits dazu, seinen Gegenstand anschaulich zu machen, ja sogar in der exemplarischen Figur der Katharina Gruber zu personifizieren, und andererseits, ihn unter wechselnden Perspektiven genau und zugleich pointiert zu analysieren.
Zivilisationstheorie von Norbert Elias
Um sich bei seiner „Spurensuche“ nicht zu verlieren, hat sich Baab entschieden, das Quellenpanorama von einem theoretischen Standpunkt aus zu betrachten, der sich hauptsächlich der Zivilisationstheorie von Norbert Elias und seinen theologischen Rezipienten (z.B. Arnold Angenendt) sowie Charles Taylors berühmter Studie über das säkulare Zeitalter verdankt. Diese Referenztheorien führt Baab, soweit es für seine Untersuchung notwendig ist, in einem eigenen Kapitel aus. Dieses Kapitel setzt die Bereitschaft voraus, sich auf soziologische Systematisierungsversuche einzulassen, und könnte nach Baab sogar übersprungen werden. Doch die Anstrengung ist nicht so groß, dass sie zu vermeiden wäre, im Gegenteil: Das Kapitel ist überaus lehrreich – auch und gerade mit Blick auf heutige religionssoziologische Entwicklungen. Mit Elias geht Baab davon aus, dass es keine Ich-Identität ohne Wir-Identität gibt, dass sich allerdings die Balance zwischen Ich und Wir im Prozess der Zivilisation verschiebe und gegenwärtig das Individuelle das Kollektive dominiere. Dem katholischen Milieu sei in dieser Entwicklung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine Brückenfunktion zugekommen. Es sei gekennzeichnet sowohl durch eine starke Wir-Identität, in der die Vergangenheit mit ihren archaisch-mythischen Vorstellungen von einer „verzauberten Welt“ und dem Einfluss außermenschlicher Kräfte auf den Menschen präsent bleibe, als auch durch die bereits schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnenden Auflösungserscheinungen. Sie belegen, dass das katholische Milieu weniger statisch als dynamisch war. Diese Grundthese führt Baab aus, indem er die Dynamik geschichtlich konkretisiert.
Das katholische Vereinswesen
Dazu skizziert er die Wurzeln des Milieus und seine sukzessive Formation unter dem äußeren, politischen Druck (z.B. Kölner Wirren, Kulturkampf) und untersucht anschließend einzelne Phänomene: das katholische Vereinswesen, die Sakralisierung des Pfarrers und die kollektiven Vorstellungen von Himmel, Hölle, Fegefeuer, Schutzengel und Heiligen. Das alles ist fesselnd, mal lehrreich, mal erschreckend, und bezeugt aufs Eindrücklichste die Widersprüche, die sich aus der Abgrenzung nach außen bei gleichzeitiger Konzentration auf den Wir-Zusammenhalt und die damit verbundene Uniformierung des Glaubensgutes ergeben. Ein besonders krasses Beispiel liefert Baab im Kapitel über den Pfarrer. Er zitiert aus einem Buch mit Empfehlungen für die Umgangsformen des Pfarrers, in dem der Autor Ludwig Hertling Priestern empfiehlt, bei einem Unfall nicht zu helfen, da es dabei in neun von zehn Fällen zu einer peinlichen Situation für den Priester kommen könnte. Das Buch erlebte 1951 seine fünfte Auflage und ist heute zum Glück vergessen. Auch etliche andere Beispiele aus den Quellen machen Baabs Untersuchung zu einer spannenden Mentalitätsgeschichte, bei der man sich fragen kann, wo die Auswirkungen des sogenannten „Nachhinkeffekts“, die Beibehaltung der herkömmlichen Wir-Identität über das Ende der Gruppe hinaus, bis heute spürbar sind. Anders gefragt: Wie viel von Katharina Gruber steckt noch in uns?
Alexander Schüller