Maylis de Kerangal: Weiter nach Osten. Roman. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Berlin: Suhrkamp-Verlag 2024, 91 Seiten, 20,00 €; ISBN 978-3-518-43212-9.
Das Buch steht im Belletristikregal der Religionspädagogischen Medienstelle. Es kann dort eingesehen und ausgeliehen werden.
Die französische Gegenwartsliteratur hat eine Fülle spannender Autor*innen zu bieten. Eine von ihnen ist Maylis de Kerangal, geboren 1967 in Toulon, und in Deutschland noch nicht allzu bekannt, obwohl mehrere Bücher in Übersetzung vorliegen. So nun auch ihr kleiner Roman „Weiter nach Osten“. Streng genommen handelt es sich allerdings nicht um einen Roman, sondern um eine Novelle, erschienen auf Französisch schon 2012.
Vielleicht, nein: ganz sicher hat der Zeitpunkt der Übersetzung mit der Thematik des Buches zu tun. Denn Aljoscha, eine der beiden Hauptfiguren, ist ein russischer Rekrut, der einen riskanten, ja im Falle der Entdeckung tödlichen Plan umzusetzen ersucht: Er will aus der russischen Armee desertieren. Am 01. April, dem Tag der traditionellen Frühjahrseinberufung, ist er zum Militär eingezogen worden, und alle Versuche, sich dem Dienst zu entziehen, etwa durch eine Eheschließung und eine schnelle Kindeszeugung, sind gescheitert. Deshalb bleibt ihm nur eine letzte, die gefährlichste Möglichkeit: auf der Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, die ihn zu seiner Einheit bringen wird, in einem unbeobachteten Augenblick zu fliehen. Sein Vorhaben wird dadurch angeheizt, dass er auf dieser Fahrt mit zwei anderen Soldaten aneinander gerät, gegen deren Fäuste er keine Chance hat. Wie aber die Flucht bewerkstelligen? Gibt es im Zug jemanden, der ihm helfen wird? Könnte es Hélène sein, die sich ebenfalls im Zug befindet? Auch sie befindet sich auf der Flucht – auf einer ganz anderen Flucht vor einem scheinbar genauso unabänderlichen Schicksal. Obwohl sie ihrem Lebensgefährten ohne Widerwillen nach Russland gefolgt ist, fühlt sie, die Französin, sich jetzt fremd, „außerhalb des Fundaments, außerhalb des Klimas, außerhalb ihrer Sprache“. Zwei Fliehende in einem davonfliegenden Zug, unter dessen Rädern die Fundamente bisheriger Überzeugungen, Handlungsweisen und Geschlechterrollen plötzlich in Bewegung geraten.
Ein faszinierendes Stück Belletristik
Maylis de Kerangal hat mit „Weiter nach Osten“ ein sprachlich und kompositorisch faszinierendes Stück Belletristik vorgelegt, das etliche brisante Fragen aufwirft – nicht zuletzt danach, welches Verhalten uns Menschen von einem bloßen „Ding“ unterscheidet. Um diese Fragen künstlerisch zu bearbeiten – auch das zeigt Kerangal – braucht es nicht unbedingt einen Roman von Dostojewskischem Ausmaß. Manchmal reichen dafür knapp 90 Seiten.
Alexander Schüller