Udo Rauchfleisch: Einsamkeit. Die Herausforderung unserer Zeit. Patmos Verlag. Ostfildern 2024. 168 Seiten 22,00 €. ISBN 978-3-8436-1526-6
„Einsamkeit“ kennzeichnet eine existentielle Befindlichkeit, die immer mehr Menschen betrifft. Der „Herausforderung unserer Zeit“, wie der treffende Untertitel lautet, stellt sich der Autor in seiner differenzierten, anschaulichen, klar gegliederten Darstellung. Er macht die Ursachen namhaft, zeigt aber auch Auswege mit der notwendigen Hilfe.
Die individuelle Verengung, die den einzelnen für sein bedrängendes Lebensgefühl verantwortlich machen würde, vermeidet Rauchfleisch. Er hebt nämlich hervor, dass individuelle und zwischenmenschliche Ursachen nicht von globalen und sozialen Ursachen zu trennen sind. Exemplarisch nennt er zwei weltweite Situationen: Die Covid–19–Pandemie rief globale Verunsicherung hervor. Das damit verbundene Gefühl von Ohnmacht und Isolation leistet reaktiv Verschwörungstheorien Vorschub. Beim Engagement gegen den Klimawandel kann wegen mangelnder Resonanz und ausbleibender Wirkung Burnout der Engagierten das einsamkeitsfördernde Resultat sein.
Beziehungsmängel in der Gesellschaft
Der folgende Abschnitt thematisiert als schwerwiegende Beziehungsmängel in der Gesellschaft die unterschiedlichen wirtschaftliche Verhältnisse, und die mangelnde Solidarität. An die Stelle von Hilfsbereitschaft tritt voyeuristisches Verhalten. Massenmedien fördern den Wunsch nach starken Erlebnissen in der Menge. Einsamkeit gilt dagegen als Krankheit. Die Schuld daran trägt der Einzelne.
Im dritten ausführlichsten Kapitel des Buches geht es um die vielfältigen individuellen Ursachen der Einsamkeit. Diese wird an einprägsamen, anschaulichen Beispielen als generationsübergreifend gekennzeichnet und auf belastende Lebenssituationen, zum Beispiel durch eine abweichende sexuelle Orientierung oder durch ein besonders hohes Lebensalter bezogen. Unmissverständlich und beeindruckend arbeitet Rauchfleisch in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Scham heraus: Die Angst davor aufgrund eigener Mängel bloßgestellt und lächerlich gemacht zu werden, führt zur Entfernung von Situationen, die mit beschämenden anderen verbunden sind. Angesichts der als isolierender Mangel empfundenen eigenen Fehler schwinden das Selbstbewusstsein und die Erfahrung, dazuzugehören. Das Lebensgefühl, dem gewünschten Selbstbild nicht zu entsprechen, den Anforderungen anderer nicht zu genügen, entspricht, verbunden mit der Scham, dass man sich selbst die Schuld dafür gibt. Gegen diese fatale Verbindung gilt es die wirklichen lebensgeschichtlichen und strukturellen Gründe bewusst zu machen. Hilfreiche Fallbeispiele illustrieren die lehrreiche Darstellung.
Zwischenmenschlich kann Einsamkeit die Folge sein, wenn durch Trennung oder den Tod eines notwendigen anderen die bis dahin bestehende Sicherheit zerbricht.
Die Folgen der Einsamkeit
Das 5. Kapitel über die Folgen der Einsamkeit beinhaltet eine interessante Zweiteilung: Nachdem er bereits erwähnte psychische Erkrankungen verbunden mit sozialem Abstieg kennzeichnet, kommt – überraschend – Positives in den Blick: Einsamkeit, Alleinsein, kann auch bewusst gewählt werden. Als Eigensein verstanden, kann sie der Ausdruck einer religiösen Haltung sein, zur Erfahrung Gottes in der Seele führen, verstanden als Selbstannahme, Übereinstimmung mit mir selbst in der Beziehung zu Gott. Künstlerisch bildet das zeitweise gewählte Alleinsein die Quelle der Kreativität.
Was hilft gegen die Einsamkeit? Dem großen persönlichen Engagement des Autors, basierend auf seiner psychotherapeutischen Erfahrung, entspricht es, dass er im Schlusskapitel Wege aus der zuvor so eindrücklich geschilderten einsamen Lebenssituation vieler zeigt. Konkret und alltagsnah führt Rauchfleisch individuelle, soziale und globale Handlungsmöglichkeiten an, unter anderem: Tagebuch führen, mich ehrenamtlich engagieren, mich mit Kunst auseinandersetzen. Religiös kann das Gebet ein Weg aus der Einsamkeit sein. Zwischenmenschlich können andere durch den Betroffenen die unerlässliche Auseinandersetzung mit den Gründen für seine Einsamkeit können andere ermöglichen, indem sie Zeit schenken.
Allerdings wird im Schlusskapitel wie am Anfang des Buches die globale und auch soziale Dimension der Einsamkeit. Unmissverständlich formuliert, ergibt sich als Forderung der daraus folgende Auftrag: Politisch müssen die Strukturen so verändert werden, dass ein beziehungsorientiertes Leben verschiedener Individuen und Gruppen Schritt für Schritt möglich ist.
Mit seinem lesenswerten Buch bietet Udo Rauchfleisch eine abgewogene, spannende, alltagsbezogene Darstellung und Auseinandersetzung mit einem verbreiteten, bedrängenden Phänomen.
Heribert Körlings, Herzogenrath