Die Geschichte beginnt im August 1957. Nein, halt ! Eigentlich beginnt sie im Februar 1942, wo Friedel ihren Mann nach einem Fronturlaub zum Bahnhof nach Dortmund bringt: Er muss zurück nach Russland an die Ostfront. Kurz vor der Abfahrt nimmt Edgar seinem jüngeren Bruder Jupp das Versprechen ab, für Friedel und seinen kleinen Sohn Edgar zu sorgen, falls er nicht zurückkehrt. Friedel wird ihren Mann nicht wiedersehen und Jupp sein Versprechen halten.
Nun also: Sommer 1957. Wir sind in der Steinhammerstraße in Lütgendortmund und treffen Edgar, Friedels Sohn, am Briefkasten. Er hat gerade seine Bewerbung als Kulissen- und Plakatmaler für die Städtischen Bühnen Dortmund eingeworfen, obwohl Jupp, sein Stiefvater, ihn in seinen Friseursalon oder ins „Loch“ auf die Zeche schicken will. Etwas anderes kommt nicht infrage.
„ ♫ ♪ ♫ Es liegt was in der Luft …“ wie Bully Buhlan in dem damals populären Schlager singt. Und das gilt mehrfach: Die Luft ist voll vom ölig-rußigen Dunst der Zeche, dem ständigen Rumpeln des Güterbahnhofs direkt hinter und dem Klingeln der Straßenbahn vor dem Haus, dem Mangel im Alltag, voll von Konflikten zwischen Wünschen der Heranwachsenden und elterlichen Vorstellungen. Die Elterngeneration, mit ihren kriegsversehrten Biographien: Friedel, Jupp, die „barfüßige Gräfin“ und Herr Miebach üben sich im Aushalten, Zusammenreißen und Zusammenflicken, was mal mehr und mal weniger gelingt.
Edgar, Nelly und Jürgen, alle drei 17 Jahre jung, kurz vor der Volljährigkeit haben andere Vorstellungen: „♫ ♪ ♫ Mir ist so komisch zumute / Ich ahne und vermute / Es liegt was in der Luft / ein ganz besonderer Duft, der so verlockend ruft… “ Die drei Siebzehnjährigen wollen nicht aushalten, sie wollen ihr Ding machen: Nelly will Edgar und das Schreibwarengeschäft ihrer Mutter weiterführen. Edgar will Nelly und malen, egal wo und wie. Jürgens Vater, selber vom Krieg schwer gezeichnet, hilft Edgar aus- und aufzubrechen. Jürgen will zu seiner Tante nach Milwaukee in Wisconsin, USA auswandern mit Martina, Katholikin und Flüchtling aus der „kalten Heimat“. Für sie liest er sich in der Stadtbücherei in katholische Sitten und Bräuche ein, denn Jürgen ist „religiös völlig aus dem Spiel“.
Wie es Edgar ergeht, was aus Nelly und Jürgen wird, erzählt Jörg Thadeusz mit Zeit- und Lokalkolorit anrührend und unterhaltsam. Er nimmt uns dabei mit in den Friseursalon von Jupp, wo wir schräge Typen mit Ruhrpott-Slang und sehr schrägen Sprüchen, zu viel Zigarettenqualm, die Schlager der Zeit, und das Leben rund um den Pütt erleben. Chantré und Nappos gibt’s am Kiosk bei Herrn Miebach.
Maria Cremers
Jörg Thadeusz: Steinhammer. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023, 23 Euro, ISBN 978-3-462004229