Sprechen mit Gott

Lesenswert

(c) Matthes & Seitz
Datum:
Di. 27. Mai 2025
Von:
Rainer Oberthür

Byung-Chul Han, Sprechen mit Gott. Ein Dialog mit Simone Weil, Matthes&Seitz, Berlin 2025, 126 S., 14,00 €; ISBN 978-3751830324.

Das Buch ist in der Diözesanbibliothek unter der Signatur74 544 entleihbar. 

Im Gespräch über Gott - eine Mystikerin und ein Philosoph begegnen sich

Byung-Chul Han, der Philosoph und Kritiker der Auswüchse der heutigen Informationsgesellschaft, liest die Gedanken von Simone Weil, der Arbeiterin und Mystikerin, durch die gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart hindurch – inspirierend, überraschend und eindrucksvoll, persönlich und religionspädagogisch bedeutsam!

„Vor einiger Zeit ist Simone Weil in mich eingezogen. Sie hat sich in meiner Seele eingerichtet. Nun lebt und spricht sie in mir weiter. Ich begann ein inneres, inniges Gespräch mit ihr. Ich empfand eine tiefe Zuneigung zu ihren Gedanken. Sie sprach etwas in meiner Seele an, dessen ich mir bisher nicht eigens bewusst war, das ich aber ständig, ja inständig in mir trug. Sie trat in mein Leben in einer Zeit, in der ich selbst jene Kraft spürte, die von oben kam, die stärker war als ich selbst, die Simone Weil in der kleinen romanischen Kapelle in Assisi Santa Maria degli Angeli, wo der heilige Franziskus oft betete, auf die Knie zwang.“

Brennende Aktualität
So persönlich beginnt der Philosoph Byung-Chul Han in seinem Essay, in der er die brennende Aktualität der Gedanken der hellsichtigen Mystikerin Simone Weil (1909-1943) messerscharf und wie immer sprachlich brillant vor Augen führt. In sieben Kapiteln zu Schlüsselwörtern der Gedankenwelt Simone Weils – Aufmerksamkeit, Dekreation, Leere, Stille, Schönheit, Schmerz und Untätigkeit – bringt er die Transzendenz, die andere Wirklichkeit „von oben“, zur Sprache, die im fundamentalen Kontrast zur Immanenz von Produktion und Konsum, von heutiger flüchtiger Information und digitaler Kommunikation steht und uns heute immer mehr verloren geht. Das sei im Folgenden an Gedanken aus dem Eingangskapitel zur „Aufmerksamkeit“ exemplarisch näher beleuchtet.

„Auf ihrer höchsten Stufe ist die Aufmerksamkeit das Gleiche wie das Gebet. Zwei Vögel, untrennbar vereinte Gefährten, ruhn auf demselben Baum. Der eine ißt die Frucht des Baumes, der andere schaut, ohne zu essen.“ Dieses Zitat Simone Weils (S. 9) bringt die verschiedenen Arten der Weltbegegnung metaphorisch auf den Punkt. Heute dominiert das „Essen“ deutlich das „Schauen“, herrscht eine gefräßige Wahrnehmung zu Lasten tatsächlicher Aufmerksamkeit, meiden die Menschen die „Leere“ zugunsten der „Völle“, strebt alles nach Verfügbarkeit und sofortiger Zugänglichkeit. Byung-Chul Han sieht darin auch die Krise der Religion begründet, die doch gerade Aufmerksamkeit und den Sinn für Unverfügbarkeit voraussetzt: „Die heutige Krise der Religion ist nicht einfach darauf zurückzuführen, dass bestimmte Glaubensinhalte ihre Gültigkeit verloren haben, dass wir nicht mehr an Gott glauben oder dass die Kirche jedes Vertrauen eingebüßt hat. Es gibt vielmehr strukturelle Gründe, deren wir uns zwar nicht bewusst sind, die aber verantwortlich sind für die Abwesenheit Gottes. Zu ihnen gehört der Verfall der Aufmerksamkeit. Die Krise der Religion ist somit auch eine Krise der Aufmerksamkeit, eine Krise des Sehens und des Hörens. Nicht Gott ist tot. Tot ist der Mensch, dem sich Gott offenbarte.“ (S. 9)

Wenn wir, so Han, nur noch „essen“ statt zu schauen, also gemästet werden mit Informations- und Kommunikationsmüll, mit Klang- und Blickmüll, vor Bildschirmen „komaglotzen“, verwandeln wir uns in ein „Konsumvieh“, verlieren wir uns in der sinnentleerten Immanenz des Konsums und verlieren damit den Sinn für die uns geschenkte, beglückende Fülle des Seins. Wirkliche Aufmerksamkeit braucht Zeit und Dauer: „Das Wahre ist das Währende. Die Herrschaft der Information zerstört es, indem sie uns in einen permanenten Aktualitätstaumel versetzt.“ (S. 15) Die Aufmerksamkeit für Gott dagegen ist durch Unverfügbarkeit geprägt: „Gott kann in der Schöpfung nicht anders anwesend sein als unter der Form der Abwesenheit.“ (S. Weil, S. 15). Simone Weil empfiehlt hier den Weg des Zurückweichens: „Nur das, was indirekt ist, ist wirksam. … Wenn man an einer Traube zieht, fallen die einzelnen Beeren zu Boden.“ (S. 16) Ich möchte ergänzen: Gott finden wir nicht direkt, sondern auf schrägen Wegen und im langsamen Umkreisen.

Plädoyer für Stille und Leere
Religionspädagogisch weitergedacht sehe ich schon in diesen ersten Ausführungen ein Plädoyer für Stille und Leere, für eine Intensität durch Verlangsamung (wie Georg Hilger sie immer wieder anregte), für das Aushalten von Schweigen und einfachem Abwarten, Loslassen und Geschehenlassen, für kreative, ungeplante Zeitfenster, in denen der Zufall eine Chance bekommt und uns etwas zu-fallen kann. Gerade die damit verbundene Haltung kann dem Religionsunterricht eine neue und völlig andere Fülle durch Leere und Aufmerksamkeit geben.

 Das kann hier nur ein kleiner Einblick in das ungewöhnlich dichte erste der sieben Kapitel sein, in dem Simone Weils Begriffe der Schwerkraft, der Ethik der Aufmerksamkeit, des aufmerksam freundlichen Blicks, der sozialen Aufmerksamkeit für den anderen und der Spiritualität der Aufmerksamkeit weiter entfaltet werden. Für den gesamten Essay gilt: Auch wenn Byung-Chul Han wie gewohnt seine kritische Analyse der Informationsgesellschaft provozierend einseitig und absolut formuliert, gibt die Lektüre immer wieder zu denken: für die persönliche Lebensführung wie für ein religiöses Erfahren und Lernen als Hilfe zur Menschwerdung in einer komplexen Gesellschaft.

Rainer Oberthür