Monas Augen

Lesenswert

(c) Piper
Datum:
Di. 8. Apr. 2025
Von:
Rainer Oberthür

Thomas Schlesser, Monas Augen. Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer Zeit. Müchen: Piper-Verlag 2024, 496 Seiten, 26,00 €; ISBN 978-3492072960. 


Wer durch Monas Augen sehen lernen will, kann das in der Religionspädagogischen Medienstelle. Im dortigen Belletristikregal ist das Buch einsehbar. Sie können es natürlich auch ausleihen.

Das ist ein Buch ganz nach meinem Geschmack: eine grandiose Idee, sprachlich und inhaltlich mit Konsequenz und Klarheit umgesetzt, mit zwei verschiedenen Ebenen, die miteinander verschränkt aufeinander zulaufen. In Frankreich ein gigantischer Erfolg, liest sich das Buch für die Welt der Kunst wie „Sofies Welt“ (Jostein Gaarder) und „Theos Reise“ (Catherine Clement) für die Welt der Philosophie bzw. Religionen.

Es geht um die zehnjährige Mona, die nach ihrem einstündigen Sehverlust zu erblinden droht, um ihre Eltern, die trotz großer Sorge um ihre Tochter doch sehr in eigenen Problemen verstrickt sind, und um Monas Großvater, der Monas Liebe zur Kunst wecken und ihr damit die sichtbare Schönheit der Welt eröffnen will, im schlimmsten Fall als „Vorrat“ für eine Zeit des Blindseins. So geht er heimlich ein Jahr lang nicht wie beauftragt mit ihr zum Kinderpsychiater, sondern Woche für Woche zuerst in den Louvre, dann ins Musée d’Orsay und schließlich ins Centre Pompidou. Gerahmt durch Prolog und Epilog, entwickelt sich in 52 Kapiteln zum einen ein Familiendrama, in dem Monas vor sieben Jahren gestorbene Großmutter, die ihr Opa immer noch sehr vermisst, den geheimnisvollen Hintergrund bildet. Zum anderen entdecken wir Woche für Woche ein Kunstwerk, an und mit dem zuerst der Großvater, dann immer mehr die hellsichtige Mona eine Lebensweisheit entdeckt (es beginnt mit „Lerne zu empfangen“, „Lächle das Leben an“, „Übe dich in Gelassenheit“, „Vertraue deiner Fantasie“). Jeder Abschnitt treibt Monas Geschichte voran und stellt uns in präzisen Bildbeschreibungen (kursiv gedruckt) ein Kunstwerk vor, über das der Großvater mit Mona spricht.

Neben der glasklaren Struktur und Komposition beeindruckt mich die sprachliche Umsetzung auf den zwei Ebenen der Kunst und der Familiengeschichte. Die Auflösung der Geschichte am Ende, die hier natürlich verschwiegen wird, deutet sich zwar nach und nach an, ist letztlich aber überraschend und dennoch plausibel und einleuchtend.

Besonders begeistern mich – auch als Religionspädagoge und Autor mit gleichen Ansichten – die Haltung des Großvaters gegenüber Mona und seine Gespräche mit ihr. Er redet mit Mona nicht, indem er sich zu ihr herabbeugt und „kindlich“ spricht, sondern nicht wesentlich anders als mit Erwachsenen, was sie sehr schätzt, weil sie sich ernst genommen und wertgeschätzt fühlt. Einmal heißt es mit dem Bezug auf Victor Hugo, als Grundprinzip seiner Wissensvermittlung gelte: „Es sei unerheblich, ob man auf Anhieb alles versteht, nicht jedes Wort müsse schon ein blühender Baum im riesigen Obstgarten des Geistes sein. Solange Furchen gegraben und Samen gepflanzt worden seien, würden die Knospen sich eines Tages schon öffnen“ (S. 21). So übernimmt Mona immer mehr die Rolle der Mitdenkenden und -sprechenden und findet selbst heraus, dass und wie „ein Gemälde, eine Skulptur, eine Fotografie, als Ganzes oder in einem Detail, den Sinn des Lebens anfachen kann“ (S. 27).

Die Wahl der Kunstwerke spiegelt von Botticelli, Leonardo da Vinci über Vermeer, Rembrandt, C.D. Friedrich zu Monet, Fr. Kahlo, Picasso und M. Abramović einerseits die Größen der Kunst wider, führt aber auch allgemein weniger bekannte Künstler vor Augen. Hier erweist sich Thomas Schlesser als Kenner und Kunstvermittler erster Güte. Alle Kunstwerke werden auf den inneren Einbandseiten vorn und hinten mit zusätzlich aufklappbaren Seiten präsentiert. Das ist schön gemacht, reduziert aber die für das Buch wesentlichen Werke der Kunst auf Briefmarkengröße. Da hätte ich mir (für einen Aufpreis) eine größere Präsentation im Buch gewünscht, denn einen Internet-Zugriff beim Lesen empfinde ich als widersinnig. Vielleicht gibt es ja mal eine illustrierte Sonderausgabe!

Die 52 Kapitel des Buches habe ich weitgehend Tag für Tag gelesen, damit sich die Wirkung langsam entfaltet. Manchmal jedoch wollte ich wissen, wie Monas Geschichte weitergeht und habe schon mal das nächste Kapitel angelesen. Die so in 7 Wochen vollzogene Lesereise durch die Kunstgeschichte und die Lebensgeschichten empfand ich im wahrsten Sinne des Wortes als Liebes-erklärung: an die Schönheit und Weisheit von Kunst und Welt, an das Leben in seiner Schönheit und Zerbrechlichkeit, an die immerwährende Liebe und den zum Leben gehörenden Tod. Aber lesen und sehen Sie selbst durch Monas Augen!

Rainer Oberthür