Mittsommertage

Lesenswert

(c) C.H. Beck
Datum:
Di. 18. Juni 2024
Von:
Alexander Schüller

Ulrich Woelk: Mittsommertage. Roman. München: Verlag C.H.Beck 2023, 285 S., 25,00 €; ISBN 978-3-406-80652-0.


Das Buch ist in der Religionspädagogischen Medienstelle einseh- und ausleihbar.

 

Ruth Lember, die Hauptfigur in Ulrich Woelks neuem Roman „Mittsommertage“, ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere angelangt. Als Professorin für praktische und theoretische Ethik in Berlin hat sie sich in der Wissenschaftscommunity derart profiliert, dass sie in den Deutschen Ethikrat berufen und von nun an die Regierung beraten wird.

Die Ernennungsurkunde wird ihr von der Bundestagspräsidentin höchstpersönlich überreicht, und Ruth hat in diesem Augenblick das Gefühl, als drehe sich ganz Berlin um sie. Da ist es nur folgerichtig, dass man sie an der Universität für das Amt der Dekanin vorschlagen möchte. Auch die Vorlesungen, in denen sie z.B. über „Anthropozentrische vs. ganzheitliche Umweltethik“ liest, sind gut besucht, sogar von Hörer*innen anderer Fakultäten. Ihr Mann Ben ist ebenfalls erfolgreich. Als Architekt hat er mit seinem Team einen Entwurf für ein großes Einkaufszentrum in der Siemensstadt erarbeitet und den Zuschlag erhalten, nicht zuletzt, weil die ökologische Ausrichtung des Entwurfs die Jury überzeugt – eine Ausrichtung, die auch Ruth gefällt. Kurzum: Ruth ist mit ihrem Leben zufrieden, sprüht vor Energie und hat nicht den Eindruck, dass sich etwas ändern müsste.

 

Das Leben gerät aus den Fugen
Doch im Verlauf von nur einer einzigen Woche gerät Ruths Leben aus den Fugen. Der Roman, dessen Kapitel nach den Wochentagen benannt sind, führt uns gleich zu Beginn an den Lietzensee, wo Ruth beim Joggen plötzlich von einem jagenden Hund angefallen wird, der ihr in die Wade beißt. Von da an ist nichts mehr wie zuvor, ja der schmerzhafte Biss erscheint geradezu symbolisch. Er ist ein Angriff auf Ruths körperliche Unversehrtheit und damit zugleich auf die Integrität ihrer ganzen Person, die Ruth noch nach diesem traumatischen Ereignis zu bewahren sucht, sich selbst suggerierend, dass in ihrem Leben alles so weitergehen könne wie bisher. Doch der Schmerz, den die Wunde verursacht, zwingt sie zur Einnahme eines Antibiotikums, das sie nicht verträgt, obwohl sie bisher noch nie einen anaphylaktischen Schock erlitten hat oder ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Im Laufe des Romans werden die körperlichen Schmerzen durch psychische Schmerzen ergänzt und abgelöst. Denn Ruth wird mit ihren längst verdrängten Erinnerungen an ihre Zeit als Umweltaktivistin in den 1980er Jahren konfrontiert. Und dann muss sie zu allem Überfluss auch noch die Fragilität ihrer Beziehung erkennen, die unter der Oberfläche deutlich weniger harmonisch erscheint, als Ruth und Ben es sich wünschten. Diese Erkenntnis hat nicht allein mit Stav zu tun, ihrem ehemaligen Freund, der sie nach vielen Jahren in Berlin aufsucht, sie förmlich stalkt, als wäre auch er auf der Jagd wie ein Hund, und ihr einige heikle Dokumente aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit überreicht. In den Gesprächen mit Stav kommt Ruth eine verdrängte Schuld wieder zu Bewusstsein, und ihr wird deutlich, dass sie einmal anders war und anders dachte als jetzt. Ein sterbendes Reh spielt dabei – wie überhaupt Tiere im Roman – eine entscheidende Rolle. 


Midlife-Crisis

Ulrich Woelks Roman trägt nicht von ungefähr den Titel „Mittsommertage“. Er erzählt von einer Midlife Crisis, bei der Ruth mit Möglichkeiten ihrer selbst konfrontiert wird, die sie während ihrer gesellschaftlichen und akademischen Sozialisation sukzessive unterdrückt hat. Doch die Auseinandersetzung mit der Wandlungsfähigkeit und -notwendigkeit des Menschen ist längst nicht alles, was dieser Roman zu bieten hat. Er berührt etliche brisante Fragen: die Frage nach dem Zusammenwirken von Theorie und Praxis, die stellvertretend Ruths einstige Freunde André und Stav repräsentieren. Der Roman wirft aber auch die Frage nach dem moralischen Status der Tiere auf – und damit nach der Überzeugungskraft der Descartschen Unterscheidung zwischen res extensa und res cogitans inklusive ihrer Konsequenzen für eine zeitgemäße Tierethik. Problematisiert werden auch die Vorwürfe der „Letzten Generation“, der Bens Tochter Jenny nahesteht, gegen die „Untätigkeit“ der Eltern, die Dringlichkeit von Veränderungen im kollektiven und individuellen Leben, die universitäre Selbstausbeutung und manches mehr. Ulrich Woelk gelingt es, alle diese Themen mit leichter Hand zu einem spannenden Roman zusammenzufügen, der sich ebenso sehr für den Nachttisch wie für den Diskussionszirkel eignet. Dabei scheint sich Ruths Hypothese, dass es anscheinend keinen Bereich im alltäglichen Leben mehr gibt, in dem ethische Fragen keine Rolle spielen, zusehends zu bestätigen. Ob das nur auf die fiktive Welt des Romans zutrifft oder auch auf unsere reale Welt und ob wir diese Welt genauso verändern müssen wie uns selbst? Der Sommer bietet reichlich Gelegenheit, darüber nachzudenken – und sich in Ulrich Woelks hochaktuellen Roman zu vertiefen.

Alexander Schüller

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