Leben - Papst Franziskus' Autobiographie

Lesenswert

(c) Harper Collins
Datum:
Di. 18. Juni 2024
Von:
Alexander Schüller

Papst Franziskus: Leben. Meine Geschichte in der Geschichte. Hamburg: Harper Collins 2024, 272 S., 24,00 €; ISBN 978-3-365-00763-1.

Das Buch ist in der Diözesanbibliothek unter der Signatur 72324 einseh- und ausleihbar. 


Papst Franziskus ist in vielerlei Hinsicht der erste – auch als Chronist des eigenen Lebens. Noch kein Papst in 2000 Jahren Kirchengeschichte hat seine Autobiographie zu Papier gebracht, nicht einmal sein unermüdlich schreibender Vorgänger Benedikt XVI., dessen Erinnerungen „Aus meinem Leben“ noch während seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation entstanden sind. 

Doch was hat Papst Franziskus dazu bewegt, als erster Nachfolger des Heiligen Petrus seine Lebensgeschichte aufzuschreiben? Nun, dafür gibt es zwei unterschiedliche Gründe. Zunächst eine anthropologische Grundüberzeugung: Der Mensch, so führt der Co-Autor des Buches Fabio Marchese Ragona in der Einleitung aus, hungere nach Geschichten, und gerade hier setze das Buch an.
Auf Grundlage einer Reihe von Gesprächen zwischen Franziskus und Ragona möchte es Geschichte anhand einer bestimmten Geschichte erzählen. Oder anders gesagt: Es möchte das 20. und beginnende 21. Jahrhundert aus der Perspektive eines „ganz besonderen Zeitzeugen“ (S. 8) schildern. Das hat formale Konsequenzen: Um die allgemeine und die individuelle Geschichte nachvollziehbar miteinander zu verschränken. sind die Abschnitte, in denen Franziskus zu seinen Leser*innen spricht, jeweils durch Passagen eingeleitet und unterbrochen, in denen Ragona die Ereignisse in den historischen Kontext einbettet und manches Biographische pointiert zusammenfasst. Der zweite Grund ist im Buch nicht explizit genannt, sondern nur zu erschließen. Er hat mit dem Amtsverständnis des Papstes zu tun.

Die Nähe der Menschen suchen
In der heutigen Zeit, so Franziskus mit Blick auf eine monarchische Konzeption des Papstamtes, sei es nicht mehr richtig, Distanzen zu schaffen. „Jesus stand nicht über den Menschen, er war Teil von ihnen und ging an ihrer Seite.“ (S. 254) In der Nachfolge Jesu macht sich Franziskus ein Amtsverständnis zu eigen, das die Nähe zu den Menschen sucht: handelnd, predigend – und schreibend. Seine Autobiographie soll bewusst Einblick in seine Gedankenwelt, die Wechselfälle, Fügungen und Normalitäten seines Lebens geben. Denn Franziskus, so die Botschaft, ging schon immer an der Seite der Menschen und wird es auch weiterhin tun. 

Spannung zwischen Nähe und Distanz
Die Autobiographie einer prominenten Persönlichkeit lebt allerdings nicht nur von der Unmittelbarkeit der Erzählstimme, sondern auch von einer Spannung: der Spannung zwischen Nähe und Distanz. Die Leser*innen suchen nach dem Außergewöhnlichen: nach herausragenden Eigenschaften, Ereignissen und Entscheidungen, die hinreichend erklären könnten, warum gerade dieser Mensch an eine exponierte Position in Staat, Kirche oder Gesellschaft gerückt ist. Zugleich suchen sie aber auch nach Allzumenschlichem: Sie wollen Neues, auch Triviales, erfahren über eine Person, die so sehr in der Öffentlichkeit steht, dass sie keine Geheimnisse zu haben scheint. Die auflagenstarken Enthüllungsbücher z.B. über die Mitglieder europäischer Königshäuser leben von dieser Spannung zwischen Nähe und Distanz.

Franziskus kokettiert mit seinen Unzulänglichkeiten
Die Autobiographie des Papstes ist kein Enthüllungsbuch. Und sie ist auch keine teleologische Aufstiegsgeschichte, in der von Anfang an deutlich ist, dass der Autobiograph zu Höchstem bestimmt ist. Eher kokettiert Franziskus mit seinen Unzulänglichkeiten und versichert, er habe beinahe bis zuletzt nicht verstanden, dass er zum Papst gewählt werden würde. Auch wenn das ein erwartbarer Topos sein mag – an vielen anderen Stellen bietet die Autobiographie reichlich Neues für all diejenigen, die sich bisher noch nicht ausgiebig mit dem Papst vom anderen Ende der Welt befasst haben. So erfährt man z.B., dass die Familie infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten bereits 1927 nach Argentinien übersiedeln wollte, aber noch bis 1929 warten musste, da sich kein Käufer für die Familiengrundstücke in Bricco fand. Die Verzögerung der Übersiedlung war Glück und Unglück zugleich. Denn das Schiff, auf dem man sich 1927 hatte einschiffen wollen, erlitt einen Propellerbruch und riss sinkend 300 Menschen in den Tod. Zwei Jahre später indes, kaum war die Familie in Argentinien angelangt, zerschlug die Weltwirtschaftskrise den Traum von einer wirtschaftlichen Konsolidierung, und das machte der Familie lange zu schaffen. Im selben Kapitel erfährt man, wie wichtig die Großmutter väterlicherseits für den kleinen Jorge gewesen ist.

Denn sie war die erste Person, die ihm die christliche Botschaft nahebrachte, was ihn so sehr beeindruckte, dass er schon mit 12 Jahren Priester zu werden beabsichtigte. Darüber hinaus erfährt man, dass die 1950er Jahre für den späteren Papst das entscheidende Lebensjahrzehnt gewesen sind. Zum einen lernte Bergolio in diesen Jahren nämlich, wie er in dem Kapitel „Der Kalte Krieg und die McCarthy-Ära“ schreibt, das „Arbeitsleben“ kennen – als Qualitätskontrolleur für Lebensmittel im Hickethier-Bachmann-Labor, der Laborleiterin Esther Balestrino unterstellt, einer Kommunistin, die für ihn zu einem lebensbedeutsamen Menschen wurde, weil sie seinen Blick für die Armen schärfte und ihn für Politik zu interessieren vermochte. Zum anderen fiel in die 1950er Jahre auch Bergolios erste Liebe, die er nur diskret erwähnt, sowie eine schwere Lungenerkrankung mit beinahe tödlichem Ausgang. Am eindrucksvollsten erzählt Franziskus in diesem zentralen Kapitel des Buches von einem Schlüsselerlebnis am 21. September 1953. Während der Beichte habe er sich plötzlich so sehr von der Barmherzigkeit Gottes erfüllt gefühlt, dass er sich seitdem endgültig zum Priester bestimmt gesehen habe. Das alles liest sich interessant und kurzweilig und ist durch Ragonas einführende und überleitende Texte überzeugend in den Zusammenhang gebracht. 

Was man im Buch nicht erfährt
Man könnte noch Etliches aufzählen, was man in der Autobiographie erfährt, etwa über Bergolios ernüchternde Erfahrungen im Deutschland des Jahres 1986, die womöglich sein Deutschlandbild bis heute bewusst oder unbewusst prägen. Oder über seine engagierte Ablehnung der Todesstrafe. Aufschlussreicher ist allerdings, worüber Franziskus im Verlauf seines Buches kaum spricht oder sich sogar ausschweigt. Anders als womöglich erwartet, ist das weniger sein (umstrittenes) Verhalten während der Herrschaft der Militärjunta, dem er einige erklärend-apologetische Seiten widmet, auf denen er den immer wieder erhobenen Vorwurf, die beiden Jesuitenpatres Orlando Yorio und Francisco Jalics an die Militärjunta ausgeliefert zu haben, als Verleumdung von sich weist. Die Leerstellen betreffen vor allem sein eigenes Pontifikat. Von der Amazonssynode etwa ist nirgends die Rede, und wir lesen auch nichts vom Wirbel um Amoris laetitia, nichts von seiner innerkirchlich umstrittenen Haltung zum Kommunionempfang für wiederverheiratet Geschiedene oder zur Segnung homosexueller Paare, nichts von der Kurienreform oder seiner „Ostpolitik“, kurzum: nichts von alledem, was den Journalisten Michael Meier jüngst dazu gebracht hat, Franziskus als „Papst der Enttäuschungen“ zu bezeichnen.

Franziskus’ Haltung zu diesen Themen lässt sich anhand seiner Autobiographie insofern im Detail nicht besser verstehen. Dafür findet man in den letzten Kapiteln viel Altbekanntes: die Verdammung des Wirtschaftssystems als tödlich, die pauschale Deutung sowohl des Coronavirus als auch des Abschmelzens der Gletscher und der großen Feuersbrünste als eine „Reaktion der Natur auf die Vernachlässigung und Ausbeutung durch uns Menschen“ (S. 236), und lobende Worte für seinen Vorgänger, den er für seine theologische Schriften ebenso schätzt wie für seine ‚mutige‘ Entscheidung, auf das Papstamt zu verzichten. Auch die wiederholten Einmischungen von der Seitenlinie kreidet er Benedikt nicht an: Seine Rolle als emeritierter Papst sei von „skrupellosen Menschen zu ideologischen und politischen Zwecken instrumentalisiert“ worden (S. 211) Benedikt ist neben Johannes Paul II., Guardini und von Pastor auch einer der wenigen Theologen, die Franziskus erwähnt. Eine Biographie des eigenen theologischen Denkwegs in Auseinandersetzung mit der Tradition ist sein Buch daher nicht. Vielmehr scheint Franziskus auch hier die Frömmigkeit des einfachen Volkes mehr zu interessieren als der theologische Diskurs. Vielleicht schlagen seine Ausführungen zum Weltkrieg oder anderen Ereignissen deshalb gelegentlich in eine Art Predigt um und fallen leider weniger analytisch und persönlich als moralisierend aus. In seiner Autobiographie zeigt sich Franziskus insofern als Papst der Paradoxien: ebenso pragmatisch wie traditionsbewusst, ebenso auskunftsfreudig wie verschwiegen, kurzum: als jemand, der die Lehre der Kirche nicht in Frage stellt und doch zugleich die „Starrheit der Vergangenheit“ ablegen möchte.
Empfehlenswert ist diese erste Autobiographie eines Papstes für alle, die keine Heldenbiographie lesen möchten, sondern die Geschichte eines Mannes, der die Macht, die Ämter in der katholischen Kirche bieten, mit Demut zu gebrauchen sucht, der Menschen als oberster Richter, Lehrer der Gesamtkirche und verständnisvoller Hirte begegnet – und sich an den damit verbundenen Widersprüchen abzuarbeiten hat.


Alexander Schüller