Scholastique Mukasonga: Kibogos Himmelfahrt. Roman. Aus dem Französischen von Jan Schönherr. Berlin: Claasen 2023, 137 S., 23,00 €; ISBN 978-3-546-10088-5.
Das Buch kann im Belletristikregal in der Religionspädagogischen Medienstelle eingesehen und auch ausgeliehen werden.
Was ist mit Kibogo geschehen, dem Sohn des Ruandischen Königs Ndahiro, der sein Volk von einer lebensbedrohlichen Dürre befreien wollte? Hat er sich, dem Spruch des großen Sehers gehorchend, um des ersehnten Regens willen opfern müssen? Oder war es ganz anders, und er hat sich freiwillig zum Opfer bereiterklärt, weil er sich für niemand Geringeren als den Erlöser hielt?
Ist der auf dem Berg, auf den er hinaufgestiegen ist, um sich in die Tiefe zu stürzen, von einer Wolke in die Höhe getragen worden, zusammen mit seiner Frau, seinen Söhnen, seinem Gefolge und seinen Kühen? Oder ist er auf dem Berg vom Blitz getroffen worden? Oder haben die Wolke und der Blitz Kibogo geholt, sodass er in den Himmel aufgestiegen ist?
Vieles, was man über Kibogos „Himmelfahrt“ und ihre Umstände weiß, ist unklar, und die Wahrheit ist nicht mehr herauszubekommen. Scholastique Mukasonga, die vielfach ausgezeichnete ruandische Schriftstellerin, die ihre Bücher in französischer Sprache schreibt, führt ihre Leser*innen mitten in eine Welt hinein, die mit vielen Unsicherheiten zurecht kommen muss – und darüber in einen generationenübergreifenden Kampf um die Deutungshoheit gerät, an dem die Einheimischen ebenso beteiligt sind wie die kolonialen Machthaber. Denn das Ruanda am Beginn des Romans ist noch eine belgische Kolonie, und die Europäer sind es, unterstützt von den manipulierten Häuptlingen des Landes, die mit eiserner Faust die Macht über Köpfe und Körper der Menschen beanspruchen – und es auch nach dem Ende der Kolonialzeit tun. Rücksichtlos beuten sie das Land und seine Bewohner aus, selbst die Kinder, die sie als billige Arbeitskräfte zur Unterstützung ihrer Soldaten missbrauchen.
Denn es herrscht zunächst Krieg in Ruanda, der Zweite Weltkrieg, und die augenblickliche Dürre, so reden die Häuptlinge ihren Untertanen ein, habe ihnen kein anderer als Hitler geschickt. Auf diese Weise führe er Krieg auch gegen das ruandische Volk. Dagegen komme kein Kibogo an – eine Botschaft, die ihre propagandistische Wirkung entfalten soll, indem sie an traditionelle Vorstellungen anknüpft, nach denen jede Wetterlage einen klar zu benennenden Urheber haben muss und durch Handlungen beeinflusst werden kann. Hier ist es der Kampf im Hier und Jetzt, nicht der Verweis auf die Geschichtsmächtigkeit eines Helden aus grauer Vorzeit. Anders und doch erschreckend ähnlich manipulativ fällt die Deutung der Patres aus, die das Volk missionieren wollen und zum Zeichen ihrer technischen Überlegenheit gerne auf Motorrädern angefahren kommen. Yézu (Jesus) und Maria, verkünden sie, seien es, die den Ruandern den Regen verweigerten; sie seien zornig darüber, dass die Menschen unter ihren christlichen Medaillen immer noch die alten Talismane tragen, ein Werk der Zauberer, und auch sonst ihrem „Aberglauben“ treu blieben. Nur der Kampf gegen die eigene Prägung und die Hinwendung zu Yézu und Maria allein, beglaubigt durch den Aufbau einer Marienstatue auf Kibogos Berg, könne den Regen zurückbringen. Anders sieht es Akayézu (kleiner Jesus), ein ruandischer Junge, der ins Priesterseminar aufgenommen wird und seinen Landsleuten bald zu predigen beginnt. Dabei zwingt er die christliche und die ethnisch-religiöse Überlieferung zusammen, indem er Kibogo mit Jesus identifiziert, den Aufstieg auf den Berg mit der Himmelfahrt vergleicht und auf Kibogos Wiederkehr hofft. Schließlich will er sogar selbst in den Himmel aufsteigen, um Kibogo zurückzuholen und dadurch selbst zu einem Erlöser zu werden.
Scholastique Mukasonga führt in ihrem Roman an etlichen Beispielen vor, wie die indigene Überlieferung des ruandischen Volkes im Kampf um Macht, Einfluss und Sicherheit überformt, verzweckt, missbraucht wird. Den vermeintlichen Sicherheiten des manipulierenden Erzählens der Machthaber, der Kolonialherren, Häuptlinge, Priester, Nationalisten, Charismatiker und Wissenschaftler, stellt Mukasonga das immer wieder neu ansetzende Erzählen der indigenen „Geschichtenweberinnen“ gegenüber: ein kollektives Erzählen, das sich der Kontrolle entzieht und keine definitive Fassung bietet. Damit macht sie auf eindrucksvolle Weise deutlich, dass die Literatur gerade in krisenhaften Zeiten, in denen die Menschen eindeutige Botschaften zu verfertigen suchen, eine subversive Funktion gewinnen kann – aber nicht gewinnen muss. Denn das Erzählen ist ambivalent. Affirmativ ist es im Dienst der Propaganda, als Herrschaftsinstrument. Subversiv hingegen ist es, wenn es fluide und irritierend ist, sich immer wieder korrigiert und dadurch seiner stets inhärenten Gefahr, der Vereindeutigung, entzogen bleibt. Gerade in dieser Subversivität, der Begierde nach Erzählhoheit abgerungen, liegt die Bedeutung des Erzählens bis heute, besteht die ureigene Kraft einer Literatur, die um die Wahrheit ringt statt sie zu dekretieren. Wie Mukasonga von den erzählerischen Bemächtigungsversuchen rund um Kibogos Himmelfahrt erzählt und wie sie den unheilvollen Zusammenhang von narrativer und politisch-religiöser Macht zu entlarven weiß, ist kurzweilig, erhellend, gehaltvoll - und unbedingt lesenswert.
Alexander Schüller