Kein anderes Ufer

Lesenswert

03 lesenswert_Ufer (c) Grünewald Verlag
03 lesenswert_Ufer
Datum:
Di. 10. Dez. 2024
Von:
Heribert Körlings

Norbert Reck: Kein anderes Ufer. Die Erfindung der Homosexualität und ihre Folgen. Anstoß zu einer notwendigen Debatte. Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2024. 171 S., 20,00 €; ISBN 978-3-7867-3357-7

Das Buch ist in der Diözesanbibliothek einsehbar und ausleihbar.

Die mit dem Begriff Homosexualität verbundene Kennzeichnung ordnet Menschen ein, separiert und diskriminiert sie. Deshalb will der Autor dieses stigmatisierende Wort aus der Hölle der Abstraktion herausholen (Kapitel I). Seine Ausführungen aus einem theologischen Interesse haben einen historischen Schwerpunkt.

 

Norbert Reck zeichnet nach, wie es zu dem abendländischen Denken über die Homosexualität gekommen ist. Aus der biblischen Überlieferung (Kapitel II) bis zur Neuzeit (Kapitel III) ergibt sich eine bestimmte Weise über gleichgeschlechtliche Beziehungen zu reden, die Homosexualität zu erfinden und auf die Menschen mit dieser als defizitär betrachteten Neigung heilend oder beseitigend zu reagieren (Kapitel IV). Vertreter der modernen Psychologie kritisieren die Kategorisierung von Menschen als „Homosexuelle“ und führen sie ad absurdum (Kapitel V). Eine veränderte Wahrnehmung der Homosexualität ist die Folge. Trotzdem bleibt die Frage, wie ein Ausweg aus den Kategorisierungen möglich ist. Die gleiche Würde aller anzuerkennen, müsste bedeuten, dass sich, über die wohlwollende, aber distanzierte Toleranz hinaus, Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung wirklich kennenlernen (Kapitel VI). Dann gibt es Wege zueinander. Mit den am Schluss seines Buches (Kapitel VII) skizzierten neuen Perspektiven und Lebensmöglichkeiten aus dem Glauben an Gott will der Autor dazu beitragen.

Die Kennzeichnung von Menschen als „homosexuell“ führt zur Blickverengung mit der Maske der Scheintoleranz in den liberalen westlichen Gesellschaften. Um zu erkennen, wie es dazu kommt, muss man von der historischen Entwicklung erzählen.

Betrachtet man die biblischen Bezugsstellen im Pentateuch und im Corpus Paulinum in ihrem sozialhistorischen und theologischen Kontext, ergibt sich ein erstaunliches Fazit: Es geht gar nicht oder nicht vorwiegend um die Ablehnung homosexueller Beziehungen, sondern um die Wahrung der menschlichen Würde, basierend auf der Beziehung zu dem befreienden Gott Israels. Dessen Verehrung setzt Paulus vom Götzenkult ab. Dazu gehören dann auch die von ihm abgelehnten homoerotischen Praktiken.

Eine neue Entwicklung im Mittelalter
Seit dem Mittelalter zeichnet sich eine neue Entwicklung ab. Sodomie, bzw. Sodomit kennzeichnet für christliche Theologen einen per se sündigen Menschentyp, anders als alle anderen Menschen. Weil dieser Begriff kirchlich–moralisch negativ belastet ist, wird in der naturwissenschaftlich geprägten Medizin 1869 „Homosexualität“ als Beschreibung einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur erfunden, der die „Heterosexualität“ gegenübersteht. An die Stelle der kontaminierten Sodomie tritt die Sondernatur der Homosexuellen. Als Menschen mit verschiedenen Anomalien pathologisiert, ist ihr gleichgeschlechtliches Begehren als Geisteskrankheit eingestuft, was zu allen möglichen, auch grausamen, medizinischen Experimenten führt, um die Krankheit zu beseitigen. Auch nach dem 2. Weltkrieg liegt der Fokus noch auf der Tilgung von Abweichungen, erfolglos, mit dem Tod zahlreicher freiwilliger und unfreiwilliger von der versuchten Umstimmung betroffenen Patienten als Resultat. Erst seit 1991 führt die WHO die Homosexualität nicht mehr als Krankheit. Trotzdem transportiert der Begriff immer noch die Vorstellung von einer unterschiedlich gearteten menschlichen Gruppe. Homosexualität wird nämlich als biologische Veranlagung, nicht als Begehren betrachtet. Die Variante dieser Denkfigur ist bei manchen christlichen Lesben und Schwulen die Auffassung, von Gott homosexuell geschaffen worden zu sein. Aus einer Erfindung des 19. Jahrhunderts wird fälschlicherweise ein Teil der Schöpfung Gottes.

Der prägnante Schluss des Buches ist vom Optimismus beseelt, dass ein Aufbruch, verbunden mit der Veränderung des real existierenden Christentums im Vertrauen zu Gott auf dem Weg zu den Mitmenschen möglich ist. Das letzte Kapitel des Buches beginnt deshalb mit der Frage, ob es einen Glauben gibt, der tiefer reicht als das Konstrukt „Homosexualität“, das entfremdete Menschen, Angst und Unglück nach sich zieht.

Gott = "Ich bin da"

Die entscheidende Perspektive, der Ausweg, ist der Glaube an Jahwe, den „Ich bin da“. Er ist der Gott Israels, der Vater Jesu Christi, seines fleischgewordenen Wortes unter den Menschen. Jesus bricht auf, um Isolation und Trennungen zu überwinden. In seinem Geist sind die Christen dazu befähigt und aufgefordert, Grenzen zu überwinden. Das betrifft auch die sozial konstruierten Geschlechtskategorien. In der Nächstenliebe geht es um den Übergang vom Was zum Wer. Wer seid ihr? Das ist die Kernfrage des christlichen Glaubens, die Herausforderung zu den anderen Menschen aufzubrechen. 

Norbert Recks kenntnisreiche, anschauliche Darstellung erweitert den Horizont. Sie gibt viele notwendige Anstöße zur Selbstreflexion, zur Auseinandersetzung mit dem aktuellen Thema und zur Diskussion darüber.

Heribert Körlings