Daniel Marguerat, Jesus aus Nazareth. Heimatloser, Heiler, Poet des Gottesreiches. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Zürich: Theologischer Verlag 2022, 330 Seiten, 29,80 Euro; ISBN: 978-3290183707.
Das Buch ist in der Diözesanbibliothek unter der Signatur 71 674 entleihbar.
Bildende Künstler*innen, Komponist*innen, Schriftsteller*innen und Filmemacher*innen versuchen, Jesus von Nazareth näherzukommen. Jede und jeder unter ihnen auf ihre je eigene Art. Rezeptionsästhetische Ansätze, die es bestimmt zu würdigen gilt, aber nicht selten der Phantasie der Rezipient*innen entspringen. Sie sagen etwas darüber aus, wie sie in ihrem jeweiligen Kontext Jesus sehen. Also weniger historische Rekonstruktionen, eher Projektionen. Manche geben dabei vor, ein Geheimnis zu lüften, gar eine Verschlusssache offenzulegen.
Ein konkretes Bild von Jesus
Wer war der Mann aus Nazareth? Hatte er einen Vater? Hatte er womöglich Liebschaften, hat er gar Kinder gezeugt? Was wollte er erreichen? Ist Jesus wirklich am Kreuz gestorben? Warum musste er sterben? Wie steht es mit seiner Auferstehung? Daniel Marguerat, der Schweizer Neutestamentler, weiß sich der historisch-kritischen Exegese verpflichtet und bündelt in diesem Buch die Erkenntnisse eines ganzen Forscherlebens. Dabei greift er sowohl auf biblische, antike literarische als auch auf archäologische Quellen zurück, die er heranzieht, um den Leser*innen ein möglichst konkretes Bild von Jesus aus Nazareth zu zeichnen. Natürlich skizziert er diese historische Rekonstruktion des galiläischen Wanderpredigers möglichst frei von ideologischen bzw. unabhängig von jeglichen Glaubensüberzeugungen: Wenngleich er „ein gläubiger Mensch und sogar ein christlicher Theologe" sei, so agiere er hier doch als Historiker unabhängig vom christlichen Dogma.
Die Kindheitsevangelien versteht Daniel Marguerat als theologische Konstrukte, verteidigt hierbei die Hypothese einer unehelichen Geburt Jesu, die er vor dem Hintergrund des sog. Mamzer, des jüdischen Status des unehelichen Kindes, verstehen möchte. In der Tat wird Jesus in Mk 6,3 als "Sohn Marias" bezeichnet, eine Überlieferung, die im jüdischen Kontext sehr ungewöhnlich ist, da ein Junge eigentlich als Sohn seines Vaters und nicht seiner Mutter bezeichnet wird. Schon der us-amerikanische Wissenschaftler Bruce Chilton hatte vorgeschlagen, Jesus als Mamzer, d.h. als Bastard, zu betrachten. Dieser Status hat nach jüdischem Recht strenge rechtliche Konsequenzen: Uneheliche Kinder werden aus der Religionsgemeinschaft verbannt und ihre Nachkommen bis zur zehnten Generation geächtet (Dtn 23,3); ihr Erbanspruch ist minimal und ihre Möglichkeiten, einen Haushalt zu gründen und Kinder zu bekommen, sind schwer beeinträchtigt.
Große Sensibilität gegenüber den Ausgegrenzten
War das in etwa die Situation von Jesus aus Nazareth? Der Mamzer bringt das Stigma der Ausgrenzung mit sich, von dem die Evangelien Spuren tragen, verleiht Jesus aber auch eine große Sensibilität gegenüber den Ausgegrenzten – so die These des Autors. Eine sicherlich spannende These, mit der sich Marguerat in der Forschung jedoch selbst als Außenseiter positioniert. Der katholische Exeget John P. Meier kommt zu dem Schluss, dass die These einer unehelichen Geburt Jesu nichts anderes als eine Rückprojektion auf die Markus-Stelle einer späteren theologischen Debatte sei.
Wie dem auch sei, Jesu Karriere beginnt mit der „entscheidenden“ Begegnung mit seinem Lehrer, Johannes dem Täufer. Als Anhänger seiner Bewegung lässt sich Jesus von Johannes taufen und gelangt durch eine Vision zu der Überzeugung, selbst als Sprachrohr eines Vater-Gottes fungieren zu müssen. Jesus gewinnt als Heimatloser, Heiler und Poet des Gottesreichs an Konturen. Im Licht der aktuellen Forschung untersucht Daniel Marguerat den nach Ostern aufkommenden Glauben an Jesus und an seine Auferstehung. Ein besonders bemerkenswerter Aspekt ist dabei sein multiperspektivischer Ansatz, vergleicht er doch zuletzt die Bedeutung bzw. die Rezeption Jesu in den drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die ganz unterschiedliche Bilder von ihm entworfen haben. Ein packendes Porträt, das der Gestalt Jesu menschliche Tiefe verleiht, in lebendiger und klarer Sprache geschrieben. Auf jeden Fall lesenswert!
Daniel Marguerat war bis 2008 Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Lausanne. Mit seinen Arbeiten zu den Anfängen des Christentums ist er international auf Anerkennung gestoßen. Heute gilt er im französischsprachigen Raum als einer der herausragenden Spezialisten der historischen Jesusforschung. Das Buch ist aus dem Französischen übersetzt und trägt im Original den Titel „Vie et destin de Jésus de Nazareth“, Paris 2019.
Jean-Pierre Sterck-Degueldre