Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Berlin: Suhrkamp 2021 (suhrkamp taschenbuch), 110 Seiten, ISBN 978-3518471807, 11 Euro.
Seitdem Annie Ernaux im Dezember 2022 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, sind ihre Bücher auch in Deutschland verstärkt in den Blick der literarisch interessierten Öffentlichkeit geraten.
Man findet sie problemlos in den Buchhandlungen; man spricht in Lesezirkeln und Fernsehsendungen über sie; man verschenkt sie oder bekommt sie geschenkt. Wo aber anfangen bei einer Autorin, die inzwischen über 20 Bücher geschrieben hat? Gibt es ein Buch, das für den Einstieg in das Werk einer der wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Literatur Frankreichs besonders gut geeignet ist. Nun – dieses Buch gibt es in der Tat; es ist ihr „zentrales Werk“ (Hanna Engelmann, Süddeutsche Zeitung) „Die Scham“.
Das gerade einmal 111 Seiten dünne Bändchen beginnt mit einem traumatischen Ereignis. Es ist der 15. Juni 1952, ein Sonntag, „das erste präzise und eindeutige Datum meiner Kindheit“ – wie Ernaux schreibt. Am frühen Nachmittag, nur wenige Stunden nach der sonntäglichen Messe, geraten die Eltern in einen derart heftigen Streit, dass der Vater mit einem Beil auf die Mutter losgeht. Und das zwölfjährige Mädchen sieht zu und kann nichts tun, nur weinen. Noch Jahre später schiebt sich dieses Bild – der Vater in der schlecht beleuchteten Vorratskammer, eine Hand am Hals der Mutter, in der anderen Hand das Beil, später alle drei, einander fremd, in der Küche – beständig vor die anderen Erinnerungen aus dieser Zeit. Selbst aus der Distanz, seziert mit den Instrumenten der Psychoanalyse, verliert die Szene nichts von ihrer verstörenden Wirkung.
Auch die anderen berichtenswerten Ereignisse des Tages aus Wirtschaft oder Sport, über die sich die Ich-Erzählerin im Stadtarchiv anhand einer alten Zeitungsausgabe informiert, verblassen angesichts dieser Szene. „Sie allein war real.“ Und sie bleibt real. Ernaux nimmt sich deshalb vor, die Szene schreibend aufzulösen, „in Verallgemeinerung […], in Gesetzen und Sprache“. Als „Ethnologin meiner selbst“ will sie die eigenen Erinnerungsbilder als Quellen behandeln und unter verschiedenen Perspektiven betrachten.
Dazu konzentriert sich die Ich-Erzählerin zunächst auf die Welt ihrer Kindheit: das Viertel Clos-des-Parts in Y., in dem der Lebensmittel- und Kurzwarenladen der Eltern liegt. Es ist ein enger Kosmos, die Welt der Kleinbürger und Arbeiter, geprägt von Gewohnheiten und Traditionen, in dem sich alle Menschen ebenso sehr voneinander abschotten wie sie einander nachschnüffeln. Denn sie streben nur eines an: keinen Anstoß zu erregen, unauffällig zu bleiben, kurzum: wie die anderen zu sein.
Das bezeugen viele Bilder und Erinnerungen, die die Erzählerin ausbreitet. Dann konzentriert sich die Erzählerin auf die Welt der katholischen Privatschule, die sie besucht – als einziges Kind aus ihrer Familie und ihrem Viertel. Es ist eine Gegenwelt, die doch nicht weniger engstirnig erscheint, vor allem wegen ihrer Macht und Kohärenz, ihrer Abgrenzung von der Welt des Irrtums, der laizistischen Schule, und ihrer Bücherfeindschaft. Was aber haben diese beiden Welten mit dem Erinnerungstrauma des 15. Juni und mit der Scham des Buchtitels zu tun? Um das herauszufinden, müssen Sie dieses Buch lesen, geschrieben in einer klaren, schnörkellosen Sprache, problemlos zu bewältigen an einem einzigen Tag. Alle anderen autobiographische Bücher, die Annie Ernaux veröffentlicht hat, entfalten auf ihre Art jene Erkenntnisse, die sie in diesem Buch erinnernd, kommentierend und zuspitzend sich erschreibt. Diese ethnologische Erkundung in Buchform wird Sie verändert zurück lassen und Ihnen manch eine pointiert formulierte Einsicht schenken wie etwa diese: „Die Religion soll die Bildung ergänzen und nicht an ihre Stelle treten.“
Alexander Schüller, Aachen