Noch bis zum 18. Juni und wieder vom 10. bis zum 17. September können Sie die drei biblischen Heiligtümer in Kornelimünster besuchen, darunter auch das Schweißtuch. Während des zweiten Teils der Heiligtumsfahrt wird das KI in Kooperation mit der Pfarre St. Kornelius einige Veranstaltungen anbieten.
37 Tropfen sind auf dem Tuch zu erkennen, dass ein geflügelter Engel vor seiner Brust präsentiert. Es sind Schweißtropfen. Die Darstellung im Holzschnittbüchlein des Kölner Druckers Arnt van Aich aus dem 16. Jahrhundert zeigt den Betrachter/innen plastisch, dass Jesu Schweißtuch seine Funktion erfüllt hat: Der Verstorbene hat geschwitzt, und das sieht man auch. Dass Tote schwitzen, wenn es zu heiß ist, wissen wir von erfahrenen Bestattern. Dass aber auch Jesu Leichnam geschwitzt hat, wissen wir nicht. Denn keiner der Evangelisten berichtet uns davon.
Wir können es allenfalls daraus erschließen, dass in Jesu Grab ein Schweißtuch gelegen haben soll. Allerdings finden wir diesen Hinweis nur bei Johannes, nicht bei den anderen Evangelisten. Matthäus, Markus und Lukas erzählen lediglich, dass Josef von Arimathäa den Leichnam Jesu in ein (reines) Leinentuch gehüllt habe. Dieses Leinentuch taucht allein bei Lukas später noch einmal auf, nicht irgendwo, sondern in der Ostererzählung. Petrus sei zum Grab geeilt, heißt es da, um zu überprüfen, ob der Leichnam verschwunden sei, wie Maria von Magdala, Johanna und Maria, die Mutter des Jakobus, behauptet hatten. Am Grab angekommen, habe sich Petrus ins Innere gebeugt und die Leinenbinden erblickt. Ein Schweißtuch ist nicht darunter. Anders der Ostermorgen bei Johannes: Wieder ist es Maria von Magdala, diesmal nur sie, die zu Petrus und dem „Jünger, den er liebte“, eilt. Sie hat das Grab offen vorgefunden, ist aber nicht hineingegangen. Sofort stürzen beide zum Grab, der „Jünger, den Jesus liebte“, kommt als erster ans Ziel, sieht die Leinenbinden, bleibt jedoch vor dem Grab stehen.
Erst Petrus wagt sich hinein und sieht neben den Leinenbinden „das Schweißtuch, das auf Jesu Kopf gelegen hatte, zusammengebunden an einer besonderen Stelle“ (Joh 20, 6f.). Das ist merkwürdig. Von diesem Schweißtuch war zuvor, bei der Schilderung der Bestattung, gar keine Rede. Es wird erst jetzt und nur hier erwähnt. Dass es an einer besonderen Stelle liegt, weist darauf hin, dass es Johannes gerade auf dieses Tuch ankommt. Es ist ihm derart wichtig, dass er es am dramaturgischen Höhepunkt erst einführt. Über Maria von Magdala und den „Jünger, den Jesus liebte“, werden die Leser/innen schrittweise und mit wachsender Spannung an das offene Grab herangeführt, bis ihnen endlich der Atem stockt, weil sie wissen wollen, ob Petrus noch mehr sieht als Leinenbinden.
Das größte der drei Heiligtümer
Unter den Kornelimünsteraner Heiligtümern ist das Tuch, das als Schweißtuch verehrt wird, in der Tat ein besonders Stück. Gefertigt aus Byssusgewebe, wahrscheinlich in einer Werkstatt irgendwo in Antiochia, misst es 4 x 6 Meter und ist damit das größte der drei Heiligtümer, von keiner Einzelperson vollständig ausgebreitet zu halten. Es wird darum nicht in voller Größe präsentiert wie auf dem Holzschnitt des Arnt van Aich, sondern 16 Mal gefaltet, aufgenäht auf eine Seidenunterlage und geschützt durch feinen Gazestoff. Wenn man nah herantritt, kann man erahnen, wie dünn das Schweißtuch ist – so dünn, dass man die Gesichtszüge des Verstorbenen dahinter sicher noch erkennen konnte, wenn auch nur schemenhaft. Das Schweißtuch unterscheidet sich darin nicht von den Tüchern, die im antiken Judentum als Schweißtücher genutzt wurden, etwa bei Lazarus, der auf Jesu Geheiß aus dem eigenen Grab hervortritt, das Gesicht mit einem Tuch verhüllt, Hände und Füße mit Binden umwickelt. Das Schweißtuch hat aber nicht nur eine pragmatische, sondern auch eine symbolische Funktion; es macht deutlich: Der Verstorbene ist noch da, aber schon fern; er ist noch erkennbar, aber schon fremd. Selbst Lazarus kehrt nicht zu den Seinen zurück, nachdem Jesus ihm befohlen hat, aus dem Grab herauszukommen. Er geht weg, befreit zwar vom Tod (und damit auch von dem zugehörigen Dingsymbol, den Binden, die man auf Jesu Befehl entfernt), befreit aber auch von allen übrigen Fixierungen seiner Existenz: frei für ein neues Leben, wenngleich in der irdischen, nicht der jenseitigen Welt. Zurück bleiben die Binden und das Schweißtuch – wie bei Jesus. Anders aber als auf dem Schweißtuch der Veronika, das im Mittelalter häufig dargestellt und noch häufiger verehrt wurde, und anders als auf dem Schleier von Manopello hat sich auf dem Kornelimünsteraner Schweißtuch kein Gesichtsabdruck erhalten. Das Tuch enthüllt nicht, wie Jesus ausgesehen hat, wie lang seine Haare waren und ob er einen Bart getragen hat. Es hat sein Antlitz gleichsam für immer verhüllt. Wir haben nur noch jene vier Porträts in den Evangelien, geschriebene Porträts, die uns nicht das wahre Aussehen, sondern das wahre Wesen Jesu zu zeigen versuchen. Für Johannes hat das Schweißtuch dabei eine zeichenhafte Bedeutung. Es enthüllt Entscheidendes über Jesus. Denn einen der Jünger durchzuckt bei seinem Anblick eine Erkenntnis, die den dramaturgischen Höhepunkt der Szene vollendet.
Ein Blick ins Innere des Grabes
Janet Brooks-Gerloff hat die Szene aus dem Johannesevangelium genial in Szene gesetzt. Sie zeigt eine weiße Gestalt, so weiß, wie zwei Drittel des Bildes, das auf diese Weise österlich-hell erstrahlt. Es ist, wie der Titel verrät, ein Jünger; aber er hat auch gewisse Ähnlichkeiten mit der Person, der Jesus auf Brooks-Gerloffs Bild „Grablegung“ in ein Tuch zu hüllen beginnt und die womöglich Joseph von Arimathäa oder Nikodemus darstellt. Allein durch diese Ähnlichkeit schafft die Künstlerin eine enge Beziehung zwischen Karfreitag und Ostern. Das Ostergeheimnis ist allerdings nur angedeutet. Kein triumphierender Christus erhebt sich aus dem Sarkophag wie bei Matthias Grünewald. Die Betrachter/innen sehen dem Jünger dabei zu, wie er einen vorsichtigen Blick in das Innere des Grabes riskiert. Im Dunkel eines offenen Spalts erkennt er kaum mehr als Steine und zwei weiße Tücher: ein größeres, locker bis zur Erde hingeworfenes Tuch und ein kleineres, das darüber liegt, sauber gefaltet auf einer Steinnische. Die Sicht des Jüngers ist nicht besser als die seiner Betrachter/innen, ja er scheint geradezu ihr Stellvertreter im Bild zu sein. Wie er möchten auch sie in das Grab hineinsehen, um dort alles gründlich zu inspizieren. Doch wie er können auch sie nur durch den schmalen Spalt ins Grab blicken. Dem Jünger scheint die beschränkte Perspektive nicht zu genügen.
Seine linke Hand hat sich an der Öffnung fest geklammert, als wolle er eine Schiebetür öffnen, während die rechte Hand mit ausgestreckten Fingern auf der Türplatte liegt, als wolle er irgendetwas Dahinterliegendes berühren. Gleich wird er seinen Kopf wohl um die Ecke beugen. Oder ist alles ganz anders, und der Jünger muss sich mit beiden Händen an der Tür festhalten, weil er in der Grabkammer Unglaubliches gesehen hat und erst wieder Halt gewinnen muss? Ist es Johannes, der hineinschaut? Oder ist es Petrus, der die Tür beiseite schieben und die Grabkammer betreten wird? Janet Brooks-Gerloff lässt die Identität des Jüngers im Unklaren; ihr geht es um Anderes, Maßgeblicheres. Der schmale Ausschnitt enthüllt, was wiederum das Schweißtuch als Dingsymbol enthüllt: dass Jesus von den Toten erstanden ist.
Der Jünger, den Jesus liebte
Auf diese Erkenntnis läuft bei Johannes alles zu. Doch es ist nicht Petrus, dem sie zuteil wird, sondern der „Jünger, den Jesus liebte“. Man identifiziert ihn gemeinhin mit Johannes, der auch das Evangelium verfasst haben soll. Am offenen Grab, so die Konsequenz dieser Identifizierung, erfährt er jene Wahrheit, die sein Evangelium trägt und bestimmt. Denn als schließlich auch er ins Grab hineintritt, sieht er – und glaubt. Das ist ein höchst gewichtiger Zusatz. Während Petrus die Leinenbinden und das Schweißtuch erblickt, erblickt der „Jünger, den Jesus liebte“, all das ebenfalls und glaubt – so die Klimax. Der Glaube geht hier dem Verstehen voraus; die Erkenntnis ist eine Glaubensgewissheit. Johannes verdeutlicht dies, indem er erst danach auf die Schrift verweist, nach deren Zeugnis Jesus von den Toten auferstehen müsse; die beiden Jünger hätten das aber noch nicht verstanden. Und dennoch, so der Schlussakkord, glaubt der „Jünger, den Jesus liebte“. Dieser Glaube erwächst aus seiner Liebe zu Jesus – einer Liebe, die dem Jünger so sehr zu eigen ist, dass sie ihn statt eines Namens kennzeichnet.
Jesus ist von den Toten auferstanden
Diese Wendung ist faszinierend, da sie sich sehr von den übrigen Evangelien unterscheidet. Dort erscheint jeweils eine Figur, die den Frauen die frohe Botschaft verkündet: Bei Matthäus ist es ein Engel, effektvoll begleitet von einem Erdbeben, bei Markus ein junger Mann in einem weißen Gewand, bei Lukas zwei Männer in leuchtenden Gewändern. Bei Matthäus gibt der Engel den Frauen die Anweisung, die frohe Botschaft auch den Aposteln mitzuteilen. Lukas wiederum erzählt, dass sie die Elf tatsächlich aufgesucht haben, sie aber nicht überzeugen konnten. Nur Petrus eilt zum Grab, sieht – und geht „verwundert“ nach Hause. Von einer Erkenntnis, einer Gewissheit, die allein auf Glauben beruht, ist hier keine Rede, auch in den übrigen beiden Evangelien nicht. Die Frauen verlassen das Grab bei Matthäus „voll Furcht und Freude“ (Matthäus) und bei Markus sogar mit „Schrecken und Entsetzen“. Diese Reaktion, auch ohne Ambivalenz, leuchtet angesichts der Botschaft ein, die den Frauen am Grab verkündet wurde.
Denn bei Matthäus, Markus und Lukas ist bald alles klar. Jesus ist von den Toten auferstanden. Der dramaturgische Höhepunkt liegt also am Anfang oder in der Mitte, nicht am Ende. Bei Johannes kommt erst zum Schluss heraus, was geschehen ist. Die Vermutung, die Maria von Magdala eingangs äußert, geht sogar in eine völlig andere Richtung: Man habe den Herrn aus dem Grab weggenommen, sagt sie. Damit deutet sie an, dass dem ersten Eindruck nach – wie in der Antike von Christengegnern wiederholt behauptet – ein Grabraub wahrscheinlich sei. Niemand erscheint, um diese Annahme zu korrigieren. Während den Frauen die Auferstehung Jesu in den anderen Evangelien mit höchster Autorität verkündet wird, sind im Johannesevangelium Petrus und der „Jünger, den Jesus liebte“, auf sich selbst zurückgeworfen. Sie müssen die Wahrhaftigkeit der Auferstehung entdecken, und haben dafür nur ein Zeichen. Dieses Zeichen sind die Leinenbinden, vor allem aber das Schweißtuch. Janet Brooks-Gerloff stellt insofern ganz bewusst gerade jenen Augenblick dar, in dem der Jünger die Tücher erblickt. Es geht ihr nicht um eine Abbildung des Kornelimünsteraner Schweißtuchs, sondern um den Augenblick, in dem der Jünger zum Glauben kommt. Dieser Augenblick ist im Grunde nicht darstellbar, wird aber doch in Szene gesetzt und sogar generalisiert; die Betrachter/innen sind mitgemeint. Der Augenblick ereignet sich immer wieder neu, wenn jemand vor das Bild tritt. Denn auch heute wollen Menschen wissen, was Ostern geschehen ist, aber ihre Perspektive ist beschränkt. Kein Engel, kein Mann tritt ihnen aus der Finsternis des Grabes und der Geschichte entgegen und verkündet, dass Jesus auferstanden ist. Sie haben nur Texte, Zeichen, Glaubenssymbole.
Ein solches Glaubenssymbol ist das Schweißtuch, handfest und abstrakt zugleich. Denn es vermittelt uns keinen Eindruck davon, wie die Auferstehung abgelaufen ist (was z.B. der Autor des apokryphen Petrusevangeliums versucht hat – mit etlichen phantasiereichen Zutaten), garantiert uns nicht einmal, dass sie überhaupt stattgefunden hat. Indem wir es betrachten, sind wir eingeladen, unsere Wahrnehmung, unsere Fragen und Zweifel, unsere Angst und Verwunderung zu transzendieren und zum Glauben zu kommen: einem Glauben. der empirischen Gewissheiten immer schon vorausgeht und sich in der bleibenden, liebevollen, existentiell bedeutsamen Beziehung zu Jesus realisiert.
Was wir auf diese Weise durch das Schweißtuch hindurchschauend entdecken können, ist so überzeitlich aktuell, dass es nicht mehr darauf ankommt, ob es tatsächlich von Jesu Schweißtropfen durchtränkt ist.
Alexander Schüller