Eine Soziologie des Heavy Metals

Lesenswert

(c) Kohlhammer-Verlag
Datum:
Mo. 11. Sept. 2023
Von:
Marco Schüller

Hartmut Rosa: When Monsters roar and Angels sing. Eine kleine Soziologie des Heavy Metal. Stuttgart: Kohlhammer 2023 (Metalbook Vol. 1). ISBN 978-3170426481; 20,00 €.

Der Soziologe Hartmut Rosa hat eine kleine Soziologie des Heavy Metal geschrieben und dabei Grundsätzliches über das existenzielle Erlebnis des Musikhörens unter den Bedingungen der Kulturindustrie ans Licht gebracht. Lesenswert! 

Das Buch ist in der Medienstelle unter der Signatur Rosa 301 entleihbar.

Ja, es geht um Heavy Metal, und nachdem ich das geschrieben habe, bleiben mir schätzungsweise drei Sekunden, um Sie davon zu überzeugen, trotzdem weiterzulesen. 

Es ist aussichtslos. 

Vielleicht sollte ich deshalb mit Hartmut Rosa, dem Autor, beginnen, denn mit ihm werden Sie weniger Probleme haben: Der Mann ist Professor für Soziologie in Jena und vielleicht überhaupt der einzige Professor für Soziologie, der es heute zu so etwas wie Berühmtheit gebracht hat. Er redet wie ein Wasserfall, hat einen unwiderstehlichen Lausbubencharme und schreibt, nun ja, wie ein Soziologe eben so schreibt: zuweilen etwas sperrig. Mit seinem Buch „Beschleunigung“ hat er 2005 eine Art Phänomenologie unseres modernen Lebens geschrieben; es folgte 2016 unter dem Titel „Resonanz“ ein groß angelegter Versuch, unsere gesamten Weltbeziehungen soziologisch zu deuten. Dafür brauchte Rosa damals etwa 800 Seiten.
Doch im Grunde war seine Idee viel schlanker und zugänglicher als das dicke Buch, in dem sie enthalten war: Es ging ihm um existenzielle Ergriffenheit, um einen Modus des In-Berührung-Kommens mit der Welt, der dem Menschen tiefe und prägende Sinnerfahrungen ermöglicht. Dabei legte Rosa besonderen Wert darauf, dass die Resonanz-Erfahrung unverfügbar sei: Es stehe nicht in unserer Macht, sie herbeizuführen; sie sei, um ein altes Wort zu bemühen, immer auch die Erfahrung von Transzendenz. 

Rosa geht aufs Ganze

Man sieht: Hartmut Rosa geht aufs Ganze, und dieses Ganze ist bei ihm letzten Endes ein zutiefst religiöser Begriff. Kein Wunder also, dass er jüngst unter dem Titel „Demokratie braucht Religion“ bei Kösel einen kleinen Essay veröffentlicht hat. Kein Wunder auch, dass er in Gesprächen immer wieder auf seine eigene religiöse Sozialisation zu sprechen kommt, die für ihn, den leidenschaftlichen Orgelspieler, untrennbar mit seiner Liebe zur geistlichen Musik verbunden ist.

Musik ist unser Stichwort: Sie erinnern sich, dass es um Heavy Metal gehen sollte, um eine Musik, die viele von Ihnen weder mit Religion noch mit Resonanz noch, seien wir ehrlich, überhaupt mit Musik in Verbindung bringen würden. Nun hat Hartmut Rosa in einem schmalen Band, der bei Kohlhammer erschienen ist, ausgerechnet diesem verfemten, belächelten und in die Jahre gekommenen Heavy Metal eine Soziologie auf den Leib geschrieben. Welcher Teufel ihn da wohl geritten hat?

Wer Musik hört, ist auf der Suche nach Resonanz

Zunächst einmal ist Rosa selbst Metal-Fan seit über vierzig Jahren. Sein Sachverstand ist denn auch beträchtlich und reicht von Iron Maiden bis Behemoth, von Black Sabbath bis Blind Guardian. Aber das ist es nicht, was sein Büchlein auch für solche Leser empfehlenswert macht, die dieser wilden, krachmachenden Musik rein gar nichts abgewinnen können. Es ist vielmehr Rosas grundlegende Idee, dass das Hören von Musik, ganz egal welche es ist, beim Hörer per se eine tiefgreifende Resonanzbereitschaft und -erwartung voraussetzt: Wer Musik hört, heißt das, der ist auf der Suche nach Resonanz, nach dem Gefühl, dass es, um mit dem Physiker Hans-Peter Dürr zu sprechen, auf dieser Welt mehr zu erleben gibt, als wir mit unserem Verstand begreifen. Was den Heavy Metal für Rosa in diesem Zusammenhang auszeichnet, was ihn geradezu in seinem Wesen ausmacht, ist der Umstand, dass er diese Resonanzbereitschaft nicht nur in extenso zelebriert und von seinen Fans einfordert, sondern auch, dass er sie, seit seinen Anfängen in den 70er Jahren, selbst immer wieder zum Thema macht. Rosa selbst erläutert das zu Beginn des Buches so: „Im Heavy Metal geht es um Transzendenzerfahrungen, um die gefühlte Begegnung mit einer Macht, die über uns selbst hinausgeht; sei sie gut oder böse. Metal ist existenzielle Transgression, Überschreitung der alltäglichen Wirklichkeitsgrenzen nach oben wie nach unten. Diese Musik strebt nach dem Durchbruch zu einer anderen Wirklichkeitserfahrung – nicht nach einem Weltbild, nicht nach einer Erklärung oder Theorie.“

Musikalische Schlüsselerlebnisse

Diese Kernidee spielt Rosa nun, der Dramaturgie eines Musikalbums mit Intro und Outro folgend, anhand bestimmter prägender Erfahrungsbereiche des Heavy Metal durch, und zwar immer so, dass seine Ausführungen durchsichtig bleiben für die Erfahrungsdimensionen auch anderer Musikstile (Rosa selbst ist großer Pink Floyd-Fan): so etwa anhand der Heavy-Metal-spezifischen Erfahrung, nicht bloß ein Fan zu sein, sondern die eigene Biographie im Kontext musikalischer Schlüsselerlebnisse zu deuten, oder anhand der spirituellen Erfahrungen des Musikhörens und des Konzerterlebens, die im Heavy Metal ganz besonders charakteristische Ausprägungen gezeitigt haben. 

Die Sprache eines Fans

 Rosas Einlassungen sind nicht nur gleichermaßen ergiebig für eingefleischte Fans und ebenso eingefleischte Nicht-Fans, die bereit sind, einige Vorurteile über den Heavy Metal abzulegen; sie sind es auch für solche, die grundsätzlich etwas lernen wollen über die modernen Rezeptionsbedingungen von Musik unter den Vorzeichen von Massenkultur und der Dialektik von Transzendenzverlust und Transzendenzsehnsucht. Dabei erliegt Rosa aber nirgends der Versuchung, das Thema durch Wissenschaftsjargon und theoretischen oder methodischen Ballast zu ersticken. Seine Sprache ist die Sprache eines Fans, der als Wissenschaftler begreifen will, was ihn ergreift, und sich damit an Menschen richtet, denen es genauso geht. Es ist ein auf Augenhöhe geschriebenes Buch, elastisch im Duktus, kurzweilig, zuweilen anekdotisch, immer erhellend: ein Buch kurzum, das diese Musik schon lange verdient hat. 


Marco Schüller (Franz-Meyers-Gymnasium Mönchengladbach)