Ein Mann seiner Klasse

Lesenswert

(c) Ullstein
Datum:
Di. 28. Okt. 2025
Von:
Pia Schümmer

Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse. Berlin: Ullstein 2021, 288 S., 12,99€; ISBN 9783548064673

Das Buch ist im Belletristikregal der Religionspädagogischen Medienstelle einsehbar und auch ausleihbar.

Christian Baron erzählt in seinem autofiktionalen Text Ein Mann seiner Klasse von den prekären Lebensumständen seiner Eltern und Geschwister, die durch Armut, Krankheit und die Gewalt des alkoholkranken Vaters geprägt sind. Es handelt sich jedoch nicht um ein Sozialdrama, das Leid und Elend voyeuristisch ausstellt. Vielmehr thematisiert Baron soziale Ungleichheit und legt die strukturellen Ursachen und Mechanismen offen, die diese Ungleichheit hervorbringen.

Der Autor selbst betont, er habe kein „RTL II für Rotweintrinker“ schaffen wollen. Der Text zielt nicht rein auf Mitleid, sondern auf Aufklärung und gesellschaftliche Reflexion ab.

Durch die kindliche Perspektive der Figur Christian werden gesellschaftliche Missstände besonders eindrücklich sichtbar. Wenn der Junge etwa fragt: „Mein Vater geht arbeiten, so wie andere Väter auch. Warum sind wir arm? Welcher Chef lässt sowas zu?“, wird die Absurdität sozialer Ungerechtigkeit unmittelbar greifbar. Die Erwachsenen in Barons Umfeld erkennen diese Ungerechtigkeit hingegen nicht in dieser Pointierung, da insbesondere der Vater von einem durch Scham geprägten, falschen Klassenbewusstsein bestimmt ist. Aus Angst vor Stigmatisierung lehnt er staatliche Unterstützung ab und vermittelt seinen Kindern, Menschen, die „Stütze vom Staat“ erhalten, seien „Asis“. Diese internalisierte Scham führt dazu, dass die Familie selbst in größter Not keine Hilfe annehmen kann. So wird deutlich, dass die Gewalt, die Baron schildert, nicht nur innerhalb der Familie existiert, sondern auch von außen erfahren wird: in Form sozialer Ausgrenzung und gesellschaftlicher Missachtung, welche jede Chance auf eine Besserung der Umstände verhindert.

Ausweg aus den Verhältnissen
Ein Ausweg aus diesen Verhältnissen eröffnet sich allein Christian, der durch verschiedene familiäre und institutionelle Unterstützungsakteure besondere Förderung erfährt, die er sich auf institutionelle Art jedoch erst verdienen muss. Baron hebt hervor, dass er ohne diese Zuwendung niemals Journalist und Autor geworden wäre.

Inspiration für Ein Mann seiner Klasse fand Baron unter anderem in den autobiografischen Texten französischer Autoren wie Didier Eribon und Édouard Louis. Im Unterschied zu ihnen beschreibt er seine Klassenherkunft jedoch nicht aus einer durch Aufstieg errungenen Distanz und einer gewissen Abscheu, sondern durch Selbstverortung – etwa, wenn er erzählt, wie Christian mit seiner Mutter zur Musik der Kelly Family tanzt oder mit seinem Vater in der Kneipe die Spiele des 1. FC Kaiserslautern bejubelt. So wird auch immer wieder deutlich, dass Christian ein ambivalentes Verhältnis zum Vater hat, was einerseits durch Liebe und Hochachtung geprägt ist, aber auch durch Leid und Angst.

In einer Zeit, in der über die ärmsten Teile der Gesellschaft oft höchst populistisch gesprochen wird, ist Barons Roman ein notwendiger Beitrag zur deutschen Gegenwartsliteratur. Er erinnert daran, dass soziale Herkunft nicht nur Schicksal, sondern auch Ergebnis gesellschaftlicher Strukturen ist, die sichtbar gemacht werden müssen.

Pia Schümmer