Die Methode "Blick mit der Kamera"

Wegweisend

Bearbeitetes Arbeitsblatt einer Schülerin, Klasse 7. (c) Quelle: Bergmoser + Höller Verlag / Scan: Jean-Pierre Sterck-Degueldre
Bearbeitetes Arbeitsblatt einer Schülerin, Klasse 7.
Datum:
So. 10. Sept. 2023
Von:
Jean-Pierre Sterck Degueldre

Methode: Blick mit der Kamera 

Zielgruppe: alle Schulformen ab Kl. 5, Anpassung je nach Lerngruppe

Ziel der Methode: Texterschließung auf synchroner Ebene: Die Schüler*innen entdecken die biblische Erzählung als literarische Konstruktion, nehmen die darin enthaltene Inszenierung wahr, identifizieren sich mit den Aktanten, fühlen sich in die erzählte Handlung ein. Eine Korrelation mit der eigenen Lebenswelt wird u. a. auch durch die Gestaltung von kreativen Produkten durch die Lernenden angebahnt.

Zeitbedarf: 30 Minuten

Material: Materialblatt mit Bibeltext und leerer Arbeitsfläche (in Printform oder als digitale Vorlage), Stifte.


Beschreibung/Verlauf:

„Blick mit der Kamera“ erlaubt ein beinahe spontanes Eintauchen in die Erzählung. Es bedarf ggf. vorab einer kurzen Einführung in die Fachsprache der Kameraeinstellungen und -perspektiven und deren Effekte (z.B. Nahaufnahme, amerikanische Einstellung, Halbtotale Totale, Zoom, Frosch-/Vogelperspektive usw.). Meist verfügen die Lernenden schon über ein gutes Vorwissen: Kameraeinstellungen lenken unseren Blick und setzen inhaltlich Akzente, helfen z.B. Spannungen aufzubauen, führen die Zuschauer*innen entlang des Erzählfadens.

Kaum anders ist es in biblischen Erzähltexten: Die Schreiber*innen lenken unseren Blick und lassen vor unserem inneren Auge Bilder entstehen, zeigen uns, was wir sehen sollen. Die Methode „Blick mit der Kamera“ entspringt dem Methodenrepertoire der filmhermeneutischen Bibeldidaktik, die eben auf dieser Feststellung fußt: Wie ein Film sind auch biblische Erzählungen inszeniert. Die Dialoge, die suggerierten Bilder und konstruierten Szenen sind wohldurchdacht. Den Aktanten, die z.T. historisch verbürgt sind, legen die Autor*innen mitunter Worte, Repliken, Reden in den Mund. Auch Filmemacher*innen recherchieren, selektieren das Material, entwickeln u. a. durch Kameraführung und Schnitt eigene Akzente.
Im Filmgenre des sog. Bio-Epos (vgl. Gandhi, Romero, Bohemian Rhapsody, Rocketman) sprechen die Schauspieler*innen Texte, die die historischen Personen so nie gesprochen haben. Das erinnert doch sehr an die „Jesus-Biografien“ in den Evangelien. Auf genau solche Inszenierungen gilt es das Augenmerk zu richten.


Blick mit der Kamera:
Die Methode blendet zunächst historisch-kritische Fragestellungen aus und konzentriert sich ganz auf die narrative Erschließung eines biblischen Textes, welcher auf einem Arbeitsblatt abgedruckt wird und sich in der ersten von zwei Spalten befindet. Die Lernenden sollen sich in die Lage eines Regisseurs/einer Regisseurin versetzen und den Szenenbildern der biblischen Erzählung Kameraeinstellungen zu ordnen. Wie wird unser Blick gelenkt? Was sollen Leser*innen sehen? Diese Kameraeinstellungen können in der zweiten Spalte notiert oder gezeichnet werden. Erfahrungsgemäß finden sich Schüler*innen sehr schnell zurecht und entwickeln kreative Ideen, wie man das „Manuskript“ verfilmen könnte, bzw. welche Kameraperspektiven und -einstellungen sich eignen, um die Erzählung lebendig werden zu lassen. Lernende melden zurück, dass sie mit dieser Methode quasi „mit beiden Füßen in die Erzählung hineinspringen“. Es werden intensive Textbegegnungen angestoßen, das Lesen verlangsamt und intensiviert. Oftmals werden mehr Details wahrgenommen. Die Schüler*innen stellen ihre Kameraführungen im Plenum vor. Im anschließenden Vergleich ihrer Inszenierungen wird den Jugendlichen bewusst, dass zwar alle denselben Text gelesen haben, diesen aber jeweils anders rezipieren und transformieren. Dadurch entsteht jeweils eine neue Erzählung, die ihre je eigene Berechtigung hat (Rezeptionsästhetik).

Wenngleich die Narration vorrangig synchron erschlossen wird, kommt es nicht selten zu einem historisch-kritischen Zugewinn: Die Schüler*innen verstehen, dass die biblische Erzählung im Eigentlichen selbst schon eine Inszenierung ist – also ein komponiertes Schriftstück und kein historischer Tatsachenbericht.


Mögliche Themenbereiche:
Alle biblische Textgattungen mit narrativem Charakter (z.B. Gleichnisse, Wundererzählungen, Epiphanien usw.), ggf. auch Sachtexte. 


Quellen:

- Sterck-Degueldre, Jean-Pierre,  „Ich sehe etwas, was du nicht siehst.“ Filmhermeneutische Bibeldidaktik, Konzept und Impulse für die Praxis, in: Lüke, Ulrich/Peters, Hildegard (Hg.), Wissenschaft, Wahrheit, Weisheit, Freiburg 2018, S. 175-210.

- Heike Harbecke, Jean-Pierre Sterck-Degueldre, Mit der Bibel lernen, :in Religion (6/2021), zu Mk 6,46-52 (Seewandel), entleihbar in der Medienstelle als Medienpaket MP 102.1.87