Jan-Heiner Tück: Crux. Über die Anstößigkeit des Kreuzes. Freiburg i.Br., Basel, Wien: Herder 2023, 375 S., ISBN 978-3451391972; 28,00 Euro
„Ich muss mein Kreuz auf mich nehmen.“ „Mich hat jemand aufs Kreuz gelegt.“ „Es ist aber auch ein Kreuz.“ „Ich bin gestern zu Kreuze gekrochen.“ Wenn das Kreuz in Redewendungen auftaucht, dann sind Kummer und Leid nicht fern. Das gilt selbst für eine Redewendung wie „Anschließend mache ich drei Kreuze“, mit der wir implizit ebenfalls von Kummer und Leid sprechen. Eine schwere Prüfung, ein heikles Gespräch, eine Auseinandersetzung ist uns noch frisch im Gedächtnis, aber wir fühlen uns jetzt erleichtert, geradezu befreit, dass der unangenehme Augenblick vorüber ist.
Kummer und Leid, Erleichterung und Befreiung - auch in den Redewendungen ist das Kreuz so ambivalent wie seine Form: Der Querbalken erinnert an die ausgebreiteten Arme der Mutter, so Georg Baudler, und verheißt symbolisch Geborgenheit und Schutz; der Kreuzesstamm gemahnt an den Pfahl, den Ort der Todesstrafe und des Opfers.
Die Ambivalenz des Kreuzes
In seinem neuen Buch „Crux“ diagnostiziert der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück die Ambivalenz des Kreuzes schon in seiner Einleitung. Doch Tück fragt weiter, will klären, warum das Kreuz seine Selbstverständlichkeit als kulturell akzeptiertes Symbol heute verloren hat und vielen Zeitgenossen nur mehr anstößig erscheint – so anstößig, dass die Kreuze reihenweise aus dem öffentlichen Raum, aus Schulen, Universitäten und Behörden, entfernt werden. Dieser Anstößigkeit will Tück auf den Grund gehen, indem er in 24 Kapiteln ein „Panorama von unterschiedlichen Perspektiven“ auf das Kreuz entwirft. Sein Ausgangspunkt ist die konkrete Form des Kreuzes, die er mit Ernst Jünger machtkritisch zu deuten weiß: Durch den Negativstrich des Kreuzbalkens werde die Senkrechte als Symbol der Macht gebrochen. Eine ähnliche Spannung erkennt Tück unter einem anderen Blickwinkel: Der nach oben weisende Kreuzesstamm stehe gegen Transzendenzvergessenheit, der Querbalken hingegen öffne den Blick für die Umgebung, die Menschen und die Welt.
Ein Zeichen gegen eine verengte Perspektive
Dass das Kreuz insofern ein Zeichen gegen eine verengte Perspektive auf die Welt sei, mache es bereits anstößig. Doch das ist nur die erste Antwort auf die Leitfrage des Buches, das in den folgenden Kapiteln auf profunde und zugleich lesbare Weise viele Antworten präsentiert und entscheidende Wegmarken der Theologie- und Kulturgeschichte des Kreuzes vorstellt. Dazu gehören die biblisch-patristischen Deutungen ebenso wie die klassischen Entwürfe der Christologie (Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, Martin Luther und auch Friedrich Nietzsche). Dazu gehören künstlerische ‚Arbeiten am Kreuz‘, so bei Holbein, Dostojewski, Jawlensky und Celan. Und dazu gehören kulturpolitische Debatten wie jene, die sich entzündete, als Bischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx auf dem Tempelberg ihre Kreuze ablegten und dafür der „symbolischen Selbstamputation“ geziehen wurden. Das Buch runden zwei Kapitel ab, in denen Tück auf das Kreuz als Zeichen des österlichen Triumphes zu sprechen kommt.
Vielfalt im Fokus
Tücks „Crux“ zeichnet sich durch drei besondere Eigenschaften aus. Erstens durch seine Vorbehalte gegen geschlossene theologische Systeme. Das ist für einen systematischen Theologen durchaus ungewöhnlich. Tück beruft sich allerdings auf Hans Urs von Balthasar, der die Auffassung vertrat, dass gerade das Kreuz jedes System sprenge. Eine vollständige systematische Darstellung der Bedeutung des Kreuzes strebt Tück deshalb erst gar nicht an, auch wenn die Auswahl der Blickwinkel, die er nacheinander einnimmt, keinesfalls willkürlich ist. Sie ist aber auch nicht erschöpfend (Rahner und Moltmann z.B. kommen nur am Rande vor). Doch Tück geht es nicht um Vollständigkeit, sondern um Vielfalt. Die Perspektiven dürfen, ja sollen einander konterkarieren; sie werden nicht in ein eigenes konsistentes System überführt. Sein Buch besteht vielmehr aus „Essays“, die man sukzessive oder auch separat lesen kann.
Zweitens zeichnet sich Tücks Buch dadurch aus, dass es nicht nur theologische Beiträge berücksichtigt, sondern auch philosophische, literarische und künstlerische Zeugnisse, die Tück wie in seinen anderen Büchern mitunter als eine Form der „Fremdprophetie“ versteht (z.B. in einem der interessantesten Kapitel über Platons „Politeia“). Sein Buch beginnt daher nicht mit Jesus am Kreuz, sondern mit Odysseus am Mastbaum, den Sirenen lauschend. Eindrucksvoll arbeitet Tück heraus, wie die frühen, mit der griechischen Kultur vertrauten Christen die bekannte Episode aus Homers „Odyssee“ mit ihrer eigenen Situation verknüpft haben: Odysseus ähnele den Christen, die sich mit Christus freiwillig an das Holz des Kreuzes binden ließen, um die Gefahren ihrer Zeit zu bestehen (Sirenen als Verlockung irdischer Schönheit oder gelehrte Dämonen, die den Wissensdurst des Menschen zu stillen verheißen). Von hier aus wurde Odysseus zu einem Modell für ein weltoffenes, aber doch achtsames Verhalten. Maximus von Turin indes vergleicht Odysseus sogar mit Christus selbst: Während Odysseus durch seine Vorsicht nur die eigenen Gefährten gerettet habe, habe Christus durch sein Leiden die Menschheit erlöst. Später, bei Dante, werde das Odysseus-Bild, so Tücks Befund, radikal umgedeutet: Odysseus segelt, von Hybris besessen, über die Grenzen der Welt hinaus und gibt die Mannschaft der Vernichtung preis; denn sein Schiff kentert. An die Stelle der freiwilligen Selbstbindung trete bei Dante insofern die Selbst-Entfesselung der Freiheit.
Der schiffbrüchige Odysseus
Wieder einige Jahrhunderte später greift Paul Claudel auf das Bild des schiffbrüchigen Odysseus zurück. In seinem Stück „Der seidene Schuh“ treibt ein Jesuitenpater auf dem Meer, geheftet nur an den Stumpf des Mastes – an ein Kreuz, das auf dem Meer treibe und an nichts mehr geheftet sei. Tück betont die Ambivalenz dieser Szenerie: Claudel stelle die Fraglichkeit des Glaubens ebenso wie des Unglaubens dar. Die komprimierte Tour durch das erste Kapitel dürfte deutlich gemacht haben, wie souverän Tück Verbindungslinien zwischen Zeugnissen aus entfernten Epochen aufzuzeigen vermag. Das gilt nicht weniger für das unmittelbar folgende Kapitel über das Opfer der Alkestis und das Buch insgesamt.
Einladung zum Perspektivenwechsel
Ein dritter Vorzug des Buches ist schließlich, dass Tück seine Leser*innen bisweilen zu einem Perspektivwechsel einlädt, etwa wenn er sich Kermanis Essay „Warum hast du uns verlassen?“ neben der dort formulierten Absage an das Kreuz auch die kaum beachtete Umdeutung der christlichen Erlösungsbotschaft in den Blick nimmt. Am deutlichsten spürbar ist dieser Perspektivwechsel im Kapitel über Anselm von Canterbury, in dem sich Tück entschieden gegen Ernst Bloch wendet, der Gott – ausgehend von der Sühnetheologie des Paulus und die Satisfaktionslehre berücksichtigend – als „Kannibalen im Himmel“ bezeichnet hatte. In seiner differenzierten Argumentation würdigt Tück Anselms Ansatz, der so oft kritisiert wurde, und bezieht dafür neben „Cur deus homo?“ weitere Schriften Anselms ein. Auf dieser Grundlage arbeitet er heraus, dass es bei der Lehre von der verletzten Ehre Gottes keineswegs um Gott, sondern um den Menschen geht und um sein gestörtes Verhältnis zur Schöpfung. Anselms „honor dei“ sei ein Begriff für die Schöpfungsordnung, die durch menschliche Verfehlungen gestört werde; Gottes Ehre hingegen sei unwandelbar und unzerstörbar.
Dass Anselm Sünde als Bruch der Freiheitsordnung zwischen Schöpfer und Geschöpf deutet, hält Tück für eine der Stärken der Satisfaktionslehre. Eine weitere Stärke ist für ihn die Überwindung der Redemptions- oder Loskauftheorie, die voraussetzt, dass der Mensch nur aus der Gewalt des Teufels habe befreit werden können, indem der Teufel sich rechtswidrig an Christus, dem Unschuldigen, vergangen habe. Tück unterschlägt freilich auch nicht die Schwächen der Satisfaktionslehre. Sie lasse die vielfältigen Aussagen der Bibel zu Heil und Erlösung größtenteils unberücksichtigt, sei zu staurozentrisch und verstelle den Blick auf die biblisch bedeutsamen Motive Liebe und Versöhnung durch eine juridische Terminologie.
Ein faszinierendes Panorama auf die Anstößigkeit
Diese wenigen Schlaglichter mögen genügen, um zu zeigen, dass Tücks „Crux“ ein faszinierendes Panorama auf die Anstößigkeit des Kreuzes entwirft. Seine Lektüre sei all denjenigen empfohlen, die mehr wissen wollen über die geistes- und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung des Kreuzes und sich zugleich für ungewöhnliche Blickwinkel auf das Kreuz interessieren. Einige der Kapitel eignen sich bestens als Überblick: z.B. die Kapitel über die Deutungsmöglichkeiten des Isaak-Opfers (Weist die Opferung Isaaks auf das Kreuz Christi voraus?), über die Vorstellungen von der Passions-Simulation und vom Gottesmord, über die Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury oder über die Kreuzestheologie Martin Luthers. In diesen, aber auch in anderen Kapiteln finden sich reichlich Passagen, die auch für einen Einsatz im Religionsunterricht der gymnasialen Oberstufe geeignet sind. Sein selbstgestecktes Ziel, die „im Symbol des Kreuzes angezeigten und anstößigen Sinnpotentiale“ neu erschließen zu helfen, erreicht Tück auch dadurch, dass man die Lektüre mit vielen Fragen beendet. Das jedoch ist kein Ausweis der Schwäche, sondern der Stärke dieses Buches.
Alexander Schüller
Das Buch ist in der Diözesanbibliothek unter der Signatur 71923 entleihbar.