Der ferne schöne Klang

Sehenswert

(c) Schreiber & Leser-Verlag
Datum:
Di. 8. Aug. 2023
Von:
Alexander Schmidt

Zep: Der ferne schöne Klang. Aus dem Französischen von Claudia Sandberg. Hamburg: Schreiber & Leser 2021, 80 S., ISBN 978-3965820609; 19,80 Euro 

In seinem Comic „Der ferne schöne Klang“ erzählt der Schweizer Künstler Zep von dem Mönch William, der nach fünfundzwanzig Jahren, die er in der Stille und Einsamkeit des Klosters verbracht hat, wieder in die Welt zurückkehrt. Lesenswert!

Seinen letzten großen Auftritt hatte das christliche Mönchtum in Jean-Jacques Annauds Spielfilm „Der Name der Rose“, einer Adaption des gleichnamigen Beststellers von Umberto Eco. Freilich, schon da hatte es die Hauptfigur, der Franziskanermönch William von Baskerville, nicht allzu genau mit der mönchischen Lebensweise genommen und sich stattdessen als intellektueller Avantgardist und Sherlock Holmes hervorgetan. Statt das pralle Leben zu verachten und ihm durch Askese zu entfliehen, zwinkerte dieser Mönch ihm unter seiner Kapuze fröhlich zu (wie nur Sean Connery zwinkern konnte).
Daraus – und aus der moralischen und physiognomischen Verkommenheit der Mönchsbagage – schöpfte der Film 1986 seine erzählerischen Reize. Und natürlich aus der Liebe des blutjungen Novizen Adson von Melk zu der namenlosen Schönen, die ihn eines Nachts verführt und, wenigstens in der Erinnerung, für immer der Entsagung entsagen lässt.

Das Motiv des Mönchs, den eine hübsche Frau mit den irdischsten Freuden des Lebens versöhnt, ist freilich ebenso alt wie abgeschliffen. Es gehört seit je zum Inventar christlicher Burleske. Man findet es in seinen heitersten Ausprägungen etwa bei Boccaccio oder Balzac, pathologisch verdüstert dann im 19. Jahrhundert bei E. T. A. Hoffmann (der sich seinerseits inspiriert zeigte von Matthew Gregory Lewis‘ Gothic-Roman „Der Mönch“). Gemeinsam ist all diesen Variationen des einen Motivs, dass in ihnen der mönchischen Entsagung von der Welt immer etwas zugleich Heiliges und Lächerliches anhaftet. Denn sobald der Mönch den sakralen Bezirk verlässt, worin sich all seine Erfahrungen und Erwartungen in einem spirituellen Kraftzentrum bündeln, sobald er konfrontiert wird mit der profanen Welt, die sich um diese Erfahrungen und Erwartungen nicht weiter bekümmert, ist er in tragischer oder eben komischer Weise unterbelichtet, macht er sich zum Narren, was eben auch bedeuten kann, dass er, wie es am eindrucksvollsten E.T.A. Hoffmann vorführt, völlig den Verstand verliert. 

Der Schweizer Comicautor Zep (eigentl. Philippe Chappuis, *1967) hat das Motiv nun noch einmal wiederbelebt, in seinem erstaunlichen Comic „Der ferne schöne Klang“, der 2016 in Paris erschienen ist. Bei ihm treten Stille und Einsamkeit des Mönchslebens (wunderschön auf den ersten Seiten in Szene gesetzt) ein weiteres Mal in Kontrast zur betörenden und verstörenden Buntheit des Lebens. Und ein weiteres Mal ist es eine Frau, die einem Mönch die Augen öffnet für die Anwesenheit Gottes in all den schönen Dingen, denen er sich bewusst verschlossen hat. Aber diese Frau ist kein dralles Weib, keine bloße Männerphantasie, deren Funktion sich in ihrer sexuellen Anziehung erschöpfte, sondern sie ist eine Todgeweihte, ein Mensch also, der noch in der Welt lebt und doch schon sternenweit entfernt ist von ihr: Kein Wunder, dass gerade sie den alternden Mönch, für einige Tage wenigstens, aus der Bahn wirft.

Die Geschichte, die Zep erzählt, geht so: William Turnelle lebt seit 25 Jahren als Bruder Marcus in der Kartause La Valsainte (die es in der Schweiz tatsächlich gibt). Sein Leben besteht aus Einsamkeit, aus Schweigen, aus den immergleichen alltäglichen und liturgischen Verrichtungen: „Die gleichen Gesten, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Als wenn unser Leben schon vorgeschrieben wäre von einem Gott ohne Fantasie“. Ewig könnte das so weitergehen, und niemand würde je auf die Idee kommen, eine Geschichte darüber zu erzählen.

Eines Tages aber, es ist das Jahr 2016, holt Williams altes Leben ihn mit Macht wieder zurück in jene Welt, der er einst den Rücken kehrte: Seine Tante Elise ist gestorben und hat ihm mehrere Millionen Euro vermacht; Voraussetzung der Auszahlung des Geldes, das in die Sanierung der Kartause investiert werden soll, ist allerdings, wie das Testament ausdrücklich festlegt, dass William in Paris persönlich beim Notar vorspricht. Es ist eine Art späte Rache der Tante. Die hat ihm vor 25 Jahren nämlich den Eintritt ins Kloster auszureden versucht, mit scharfer Zunge und wachem Geist. „Hör auf so zu sprechen, als gäbe es dich gar nicht“, tadelt sie in einem der Rückblicke den frommen Teenager, als der ihr versichert, die Welt und das alles interessiere ihn nicht. Ein wunderbarer Satz, ein Satz wie ein Messer. Genützt hat er jedoch nichts, vielleicht auch deshalb nicht, weil Williams eigentlicher Beweggrund für den spirituellen Rückzug viel tiefer liegt, in einer entsetzlichen Urszene, einem Ausbruch geradezu nihilistischer Todesgewissheit, der ebenfalls in einer Rückblende erzählt wird. Wie dem auch sei, William hat 25 Jahre lang tatsächlich so getan, als gäbe es ihn nicht, hat in einer sprachlosen Welt gelebt, in der es nichts zu besprechen, nichts zu entdecken, nichts zu fürchten gibt, am wenigsten sich selbst. Doch jetzt gibt es William plötzlich wieder, jetzt muss es ihn plötzlich wieder geben, als sehenden, staunenden, vom Leben erst widerwillig, dann enthusiastisch hingerissenen Mann. Mery, die todkranke Frau, der er im Zug nach Paris zufällig begegnet, hat ihren Anteil an dieser Verwandlung. Ausgerechnet sie, die nur noch wenige Monate zu leben hat, ist es, die William für einige kostbare Momente in jenes Leben zurückholt, aus dem sie selbst sich gerade verabschiedet.

Dass daraus kein Gefühlskitsch wird, keine Verherrlichung des profanen savoir vivre, kein holzschnittartiges Verdikt auch über ein geistliches Leben in Einsamkeit und Stille, entspricht Zeps bewundernswertem Gespür für die Eleganz des In-der-Schwebe-Haltens der Perspektiven. Sein präziser, naturalistischer und zugleich fragiler Bleistiftstrich, die sorgfältig arrangierten monochromen Farbflächen, mit denen die Panels unterlegt sind, die wohlgesetzten, auf das Wesentliche reduzierten Texte – das alles rückt den Comic in die Nähe dessen, wovon er erzählen will: dass Schönheit sowohl in der Abkehr von der Welt als auch in der Zuwendung zu ihr zu finden ist; ja dass es überhaupt im Glauben wie im Leben vor allem und bis zuletzt um Schönheit geht. Und diese Schönheit ist eben nicht im Verstummen der Dinge zu finden, nicht in ihrer Stilllegung, sondern, wie es der Comic auf seiner letzten Seite noch einmal bekräftigt, in ihrem „fernen, schönen Klang“. 


Marco Schüller
(Franz Meyers-Gymnasium, Mönchengladbach)

 


Sie können „Der ferne schöne Klang“ gerne im neuen Belletristik-Regal der Religionspädagogischen Medienstelle einsehen.