Heinrich Steinfest: Der betrunkene Berg. Roman. Ungekürzte Taschenbuchausgabe, München: Piper 2024, 221 Seiten, 12,00 Euro; ISBN:978-3-492-31984-3.
Das Buch steht im Belletristikregal in der Religionspädagogischen Medienstelle für Sie bereits und ist dort auch ausleihbar.
Wir wissen, dass es in Deutschland ca. 6000 Buchhandlungen gibt, von denen sich viele in den großen Universitätsstädten konzentrieren. Die meisten Buchhandlungen gibt es – absolut gesehen – in Berlin; es sind 236 Geschäfte. Wenn man dagegen die Relation von Einwohnern und Buchhandlungsdichte statistisch berücksichtigt, hat Göttingen die Nase vorn, gefolgt von Heidelberg (Stand: 2020). Die älteste Buchhandlung in Deutschland heißt Korn & Berg; sie wurde 1531 in Nürnberg gegründet und steht noch heute an ihrem alten Platz am Hauptmarkt.
Ein 1765 Meter hoher Bücherberg
Über die höchst gelegene Buchhandlung Deutschlands geben uns die Statistiken keine Auskunft. Der auf 1765 Metern gelegene „Bücherberg“, von dem uns Heinrich Steinfest in seinem Roman „Der betrunkene Berg“ erzählt, hätte gute Chancen auf den Titel – sofern es ihn denn wirklich gäbe. Doch er ist fiktiv. Geführt wird die ungewöhnliche Buchhandlung von Katharina Kirchner, einer eleganten Frau, die in ihrem Laden unzählige Bücher über Berge und Bergwelten versammelt – fast alles, was dazu je in Deutschland publiziert worden ist. Sie ist so etwas wie eine Aussteigerin, denn sie arbeitet nicht mehr in ihrem gelernten Beruf als Bühnenbilderin, auch nicht mehr, wie eine Zeit lang, in der Designabteilung eines bekannten Sportwagenherstellers, ist bereits zweimal geschieden und seitdem allein. Mit der Abfindung, die ihr zweiter Mann, ein Topmanager, ihr gezahlt hat, hat sie einen kleinen holzverkleideten Komplex gepachtet, direkt neben einem steinernen Schutzhaus auf dem Berg und fern von der Welt, in der sie bisher zuhause war. Sie erfüllt sich damit ihren Traum: eine eigene, selbst entworfene Buchhandlung an einem „fremden, zu Waghalsigkeiten animierenden Ort“. Diese Buchhandlung wirft natürlich nicht so viel ab wie eine der Buchenhandlungen in den Städten, aber es kommen doch immer wieder Wanderer vorbei, die sich für den Bestand interessieren. In den Monaten vor der Saison ist es dagegen ruhig, und gerade von dieser Zeit handelt das Buch.
Die Erstbesteigung fand 1894 statt
Es schildert uns allerdings einen durchaus beunruhigenden Moment. Denn eines Tages findet Katharina im Schnee einen fremden, bewusstlosen Mann, der – als er zu sich kommt – weder angeben kann, wer er ist noch woher er stammt und wie er auf den Berg gelangt ist. Er ist völlig derangiert und bleibt nun, von Katharina kurzerhand Robert getauft, eine Weile auf dem Berg, um wieder zu Kräften zu kommen und um seine Erinnerung zurückzugewinnen. Zum Zeitvertreib lesen die beiden, gleichsam eine temporäre Schicksalsgemeinschaft, gemeinsam jeden Abend einen Auszug aus dem Bericht über die Erstbesteigung des Berges im Jahre 1894. Im Zuge ihrer Lektüre erfahren sie, dass Simon Schindler, der junge Pfarrer des Dorfes, ein Intellektueller, den Berg als erster zu bezwingen trachtete, „domestizieren“, wie er sagte, und von seinem Triumph ein Foto schießen wollte. Deshalb nahm er damals Emilie Neudegger mit auf seine Bergtour, eine junge, rebellische Frau mit einem großen Interesse am Fotografieren. Sie sollte von dem Gipfelkreuz, das er aufzustellen gedachte, ein Foto schießen – für ihn, den fortschrittlich gesonnenen Pfarrer, eine gute Verbindung von „Tradition mit der Zeit“.
Dekouvrierende Träume
Die Figurenkonstellation des Romans wiederholt sich in diesem Roman innerhalb des Romans, die beiden Erstbesteiger wirken in vielerlei Hinsicht geradezu wie die Zwillinge der späteren Leser des Buches über die Domestizierung des Berges. Später gesellt sich allerdings noch eine dritte Person zu Katharina und Robert. Linda Hellmund. Sie ist nach dem überraschenden Abgang einer Lawine auf den Berg gestiegen, um im Auftrag der oberösterreichischen Landesregierung die zur Prävention erforderlichen Daten zusammenzustellen. Wie Katharina und Robert trägt auch sie ein im tiefsten Innersten verborgenes Geheimnis mit sich, einen notdürftig verschütteten biographischen Abgrund, der in den dekuvierenden Träumen der Figuren und der erinnerungsförderlichen Abgeschiedenheit der Berglandschaft bald sichtbar wird.
Heinrich Steinfest gibt sich in seinem Roman, wie bereits diese wenigen Bemerkungen erahnen lassen, große Mühe mit Komposition, Figurenpsychologie und Spannungsentwicklung. Er bringt in geschickter Weise zahlreiche Leitmotive (z.B. Berg, Schwimmen, Fallen) zum Einsatz, die sogar das wiederholte Lesen des Romans lohnenswert machen. Er positioniert seine Cliffhanger an genau den richtigen Stellen und erzählt – auch mit Mitteln der Kriminalliteratur – so plastisch von ungeheuerlichen Ereignissen, dass man sich immer wieder von neuem gepackt fühlt. Vor allem erschafft er aber einige unvergessliche, weil gebrochene Figuren, die wie Katharina auf ihre je eigene Art von eben jener Wildheit gekennzeichnet sind, „die von ihrer Bildung und Kultur gebändigt schien“. Von diesem „Scheinen“ handelt der Roman – gerade als Roman über eine Buchhandlung – auf vielerlei Weise.
Die Auflösung kommt erst zum Schluss
Er zeigt uns, wie leicht unter der scheinbaren Domestizierung der Natur, z.T. begünstigt durch Alkoholkonsum, die ursprüngliche Wildheit, das Zerstörerische, Gewalttätige hervorbrechen kann – mit Folgen für das eigene Leben und das Leben anderer. Warum allerdings auch der Berg betrunken ist, verrät Steinfest seinen Leser*innen in diesem klugen Unterhaltungsroman erst am Ende. Sie werden das Buch, für dessen Erwerb man sicher nicht in die höchstgelegene Buchhandlung Deutschlands steigen muss, bis dahin nicht aus der Hand legen können.
Alexander Schüller