Jörg Ernesti: Der Vatikan. Geschichte, Verfassung, Politik. München: C.H. Beck-Verlag 2025 (bw; 2961), 128 Seiten, 12,00 €; ISBN 978 3 406 82930 7.
Das Buch ist in der Diözesanbibliothek entleihbar.
Wie viele Menschen arbeiten im Staat der Vatikanstadt? Welche extraterritorialen Gebäude gehören zum Hoheitsbereich des Heiligen Stuhls? Seit wann kann man von einem Medienpapsttum sprechen? Wie viele Schweizer Gardisten gibt es? Hat der Vatikan auch ein Gefängnis? Und warum unterhält der Staat der Vatikanstadt zu keinem einzigen Stadt diplomatische Beziehungen, während der Heilige Stuhl sogar mit dem Iran diplomatisch in Beziehung steht?
Wenn Sie kenntnisreiche Antworten auf diese oder andere Fragen haben und überhaupt mehr über den Vatikan wissen wollen, den kleinsten Staat der Welt und die letzte absolute Monarchie in Europa, dann werden Sie in Jörg Ernestis kompaktem Büchlein sicher fündig. Ernesti, Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg, ist sonst eher als Autor voluminöser Bücher bekannt geworden, zuletzt mit seinem ausgezeichneten Buch über die Geschichte der Päpste seit 1800. In „Der Vatikan“ gelingt ihm allerdings auf gerade einmal 128 Seiten das beinahe Unmögliche: einen fokussierten und doch differenzierten Blick auf die komplexe Geschichte und Struktur des Vatikans zu werfen. Sein Buch, das Fabrizio Rossis älteren Band aus derselben Reihe ersetzt, bietet Bekanntes und Überraschendes zugleich und folgt einer eigens begründeten Prämisse: Die politische Dimension des Papsttums ist der religiösen untergeordnet und hat lediglich eine Dienstfunktion. Die einzelnen Kapitel des Buches über die Geschichte des alten Kirchenstaates und sein Ende im 19. Jahrhundert, die Lateranverträge, die Verfassung und das Regierungssystem (z.B. Verhältnis von Staatssekretariat und siebenköpfiger Kardinalskommission), das Territorium und das Staatsvolk und diverse Eigenheiten von der technischen Infrastruktur über Militär und Post bis zu den Vatikanischen Gärten kommen immer wieder auf die religiöse Dimension des Vatikans zurück, etwa wenn im kursorischen Durchgang durch die Geschichte gezeigt wird, wie entscheidend die territoriale Souveränität für die Päpste war – und bis heute ist, allein wenn man die im Buch ausführlich geschilderten Bemühungen des Heiligen Stuhls um Friedensvermittlung und dessen humanitäre Aktivitäten betrachtet. Der Staat der Vatikanstadt sichert diese besondere weltkirchliche Rolle des Papsttums, das seine Unabhängigkeit verlöre, wenn es einer Regierung untertan wäre. Zugleich ist der Staat jedoch so klein, dass die päpstliche Administration nicht überfordert ist – anders als im alten Kirchenstaat. Für die Bürger dieses Staates gelten besondere Regeln: Sie besitzen die Staatsbürgerschaft nur, solange sie in Diensten des Vatikan stehen, und dürfen sogar ihren angestammten Pass behalten. Davon sind alle betroffen, auch der Papst. Der Vatikanstaat ist somit der einzige Staat der Erde, in dem das Staatsoberhaupt zwei Staatsangehörigkeiten besitzt.
Eigenheiten des Mikrostaats
Besonders das Kapitel über die Eigenheiten des Mikrostaates, das mehr als ein Viertel des Bandes ausmacht, zeigt deutlich, warum so viele Menschen vom Vatikan fasziniert sind. Doch Ernesti arbeitet auch heraus, dass die ungenügende Trennung von staatlichem und religiösen Bereich, neben der Klerokratie für ihn ein Kardinalfehler des Vatikan, für zahlreiche Schattenseiten verantwortlich ist: Geldwäsche, keine wirksame Finanzaufsicht, ein defizitärer Staatshaushalt. Die Päpste seit Johannes Paul II. haben zwar zahlreiche Maßnahmen gegen diese Probleme ergriffen und den Institutionen Sparmaßnahmen verordnet; fraglich bleibt allerdings z.B., warum der Vatikan auf den Rückgang der Spenden nicht reagiert, indem er verstärkt Sponsorengelder einwirbt. Bei einer wachsenden Mitgliederzahl, die sich gegenüber 1970 verdoppelt hat und über die heutigen 1,38 Milliarden Katholiken hinauswachsen wird, erschiene Ernesti dies als zukunftsweisendes Unternehmen.
Schattenseiten des Vatikans
Zu den Schattenseiten des Vatikans gehört für ihn übrigens nicht zuletzt die Fixierung auf den Papst, die ihm zugleich aber auch dienlich erscheint, jedenfalls solange charismatische Führerpersönlichkeiten an der Spitze der Kirche stehen. Dass das politische Gewicht des Papsttums, das Ernesti auf überzeugende Weise als Mischung aus soft und hard power charakterisiert, unter dem Missbrauchsskandal leiden wird, scheint ihm auf lange Sicht überaus wahrscheinlich. Auf diesen Skandal geht er allerdings viel zu wenig ein. Das ist ein Manko in einem ansonsten sehr lesenswerten Buch, in dem Sie aus dem Mund von Johannes XXIII. wenigstens erfahren, wie viele Menschen zu seiner Zeit im Vatikan gearbeitet haben. Die Antwort ist typisch für diesen Papst – und ganz anders, als gedacht. Lesen Sie selbst!
Alexander Schüller