Tess Gunty: Der Kaninchenstall. Roman. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Kiepenheuer & Witsch 2023, 416 Seiten, 25,00 Euro; ISBN 978-3-462-00300-0.
Sie können das Buch im Belletristikregal der Religionspädagogischen Medienstelle einsehen; es ist dort auch ausleihbar.
Blandine Watkins, eigentlich Tiffany Jean Watkins, lebt in Apartement C 4 im Kaninchenstall. Das ist natürlich kein echter Stall mit echten Kaninchen, sondern der Spitzname für den La Lapiniére Affordable Housing Complex im fiktiven Ort Vacca Vale, ein Mietshaus mit dicht aneinander gedrängten Wohnungen für die Außenseiter der Gesellschaft.
In diesem Mietshaus lebt auch Joan Kowalski, die digitale Kondolenzbücher betreut und mit der Blandine über ihr Lieblingsthema redet: die Mystik. Denn sie ist eine begeisterte Leserin Hildegards von Bingen und anderer Mystikerinnen, auch wenn sie nicht so genau weiß, ob sie überhaupt an Gott glaubt. In der Nachfolge der Mystikerinnen möchte sie ihren Körper verlassen und sucht in den mystischen Texten nach Mitteln und Wegen außerkörperlicher Erfahrungen.
Sie, die sich nach einer jugendlichen Märtyrerin aus der Frühzeit des Christentums benannt hat, lebt im Kaninchenstall in einer WG mit den drei Neunzehnjährigen Malik, Todd und Jack, die alle ein wenig in sie verliebt sind und in Vacca Vale im Rust Belt, einer „dieser ausgemusterten Einwegstätte, deretwegen Demagogen gewählt werden“, nichts Sinnvolles zu tun haben. Sie selbst wiederum liebt James Yager, einen Lehrer an ihrer Schule, der mit ihr eine zum Scheitern verurteilte Lolita-Beziehung führt. Mit ihm zusammen macht Tiffany eine lebensverändernde außerkörperliche Erfahrung, die allerdings nur Episode bleibt. Von da an besteht ihr Ziel darin, Unantastbarkeit zu erreichen und aus dem Körper und der Welt, in der sie lebt und leidet, herauszukommen.
Die physische Distanz hat keine Bedeutung mehr
Für Moses Robert Blitz hingegen, den Sohn von Elsie Blitz, die als Susie Evans in der Serie „Meet the neighbors“ einigen Erfolg hatte, hat physische Distanz spätestens seit der Geburt des Internets keine Bedeutung mehr. Er interessiert sich sehr für Menschen, allerdings nur für diejenigen, die ihm online begegnen. Von anderen hält er sich möglichst fern – ähnlich wie Blandine, die ihre Nase am liebsten in die Bücher der Mystikerinnen steckt und von den drei Jungs nicht viel wissen will. Distanziert steht Moses vor allem seiner eigenen Mutter gegenüber, die er nach ihrem Tod in einem digitalen Kondolenzbuch Lügnerin, Narzisstin und Drogenabhängige nennt und bezichtigt, sein Leben und das vieler anderer verdorben zu haben.
Das sind nur zwei unvergessliche Figuren in Tess Guntys Debütroman, in dem alles miteinander verbunden und voneinander abhängig ist: Menschen und Orte, Todeserfahrungen und Revitalisierungspläne, körperliche Traumata und die Sehnsucht nach physischer Entgrenzung, individuelle und kollektive Lebensläufe. Tess Guntys Buch, über 400 Seiten stark, ist ein meisterhaft komponierter Gesellschaftsroman, wie man ihn derzeit selten findet: ausufernd und konzentriert, perspektiv- und figurenreich, innovativ und farbenprächtig, abstrakt und konkret, mit leichter Hand erzählt und doch auch tiefgründig: ein Feuerwerk an Formexperimenten und -variationen inklusive – nicht zuletzt – einiger Zeichnungen ihres Bruders, des Indie-Folk-Musikers Nicholas Gunty.
Mehrere Preise gewonnen
Für „Der Kaninchenstalll“ hat Tess Gunty gleich mehrere Preise gewonnen, darunter den bedeutendsten Literaturpreis der USA, den National Book Award – als jüngste Autorin seit Philip Roth. Und so viel sei hier noch verraten: Sie erzählt uns, dass Blandine Watkins ihr Ziel schließlich erreicht und ihren Körper verlässt, allerdings auf andere Art, als sie es sich vorgestellt hat. Wie das zugeht? Lesen Sie selbst – und vielleicht werden auch Sie nach Ihrer Lektüre zu der Einschätzung gelangen, dass man von dieser Autorin noch einiges hören wird.
Alexander Schüller