"Das ist Weltliteratur": Sparr und Yilmaz lesen im KI

Denkwürdig

(c) Frederic Maquet
Datum:
Di. 23. Apr. 2024
Von:
Alexander Schüller

Zwei inspirierende Veranstaltungen im KI im Rahmen des Kulturprogramms zur diesjährige Karlspreisverleihung: Thomas Sparr spricht im KI über die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank


Stellen Sie sich vor: In den USA gibt es Bibliotheken, die das Tagebuch der Anne Frank wegen seiner Freizügigkeit aus ihrem Bestand aussondern. Eine schlechte Entscheidung, meint Thomas Sparr, Editor at-large im Suhrkamp-Verlag, der als erster die Wirkungsgeschichte des Tagebuchs systematisch und quellennah erforscht hat.

(c) Frederic Maquet

Denn das Tagebuch sei Weltliteratur und gehöre in jede Bibliothek. Am 15.04. stellte Thomas Sparr im KI das Ergebnis seiner jahrelangen Recherchen in Archiven etc. vor: die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank. Im freien Vortrag skizzierte er den Teilnehmer*innen zentrale Stationen in der Rezeptionsgeschichte des Tagebuchs, das nicht nur zur Weltliteratur gehört, sondern auch ein Welterfolg wurde. Souverän weitete Thomas Sparr den Blick über Deutschland und die Niederlande hinaus und zeigte, wie wichtig für den globalen Erfolg des Tagebuchs das Broadwaystück "The Diary of Anne Frank" gewesen ist.

Literarische Qualitäten des Tagebuchs

Im anschließenden Gespräch mit KI-Leiter Alexander Schüller schilderte er eindrucksvoll z.B. einen typischen Tagesablauf im Hinterhaus, arbeitete heraus, wie wichtig das Lernen für Anne Frank gewesen sei, und wies auf die literarischen Qualitäten des Tagebuchs hin. Die anwesenden Schüler*innen des Kaiser-Karls-Gymnasiums zeigten sich besonders am Alltagsleben im Hinterhaus interessiert. Eine Schülerin wollte z.B. wissen, wie es den Versteckten gelungen sei, keinen Lärm zu machen, und erfuhr, dass dies tatsächlich ein Problem gewesen sei, ja dass das Versteck sogar mehrfach kurz vor der Entdeckung stand. Zum Schluss der Veranstaltung übergab Thomas Sparr den Schüler*innen ein signiertes Exemplar seines Buches – eines von vielen Highlights in einer fulminanten Veranstaltung.

 

„Ich bewundere Sie für Ihren Mut!“ Burak Yilmaz stellt im KI sein Buch „Ehrensache. Kämpfen gegen Judenhass“ vor.

„Ex oder Jude“. Ein Trinkspruch, den Burak Yilmaz, Pädagoge und Autor aus Duisburg, bereits des öfteren gehört hat. Gleich zu Beginn seines Vortrags am 18.04. im KI wies er darauf hin, dass die alte antisemitische Vorstellung vom verweichlichten Juden gegenwärtig ein ungeahntes, furchtbares Revival feiert, ja mehr noch: Sie hat sich mit klischeehaften Ansichten über das Verhalten „echter Männer“ verbunden, die ihre Männlichkeit etwa durch Trinkfestigkeit beweisen wollen und sie obendrein geradezu mechanisch mit Gewalt assoziieren. Da kann es schon einmal vorkommen, dass Jugendliche darüber wetteifern, wer unter den Schlägen des eigenen Vaters am schnellsten zu Boden gegangen ist. Burak Yilmaz möchte diese fatale Mischung aus Gewaltfaszination, Rassismus, Antisemitismus und toxischen Männlichkeitsidealen sichtbar machen – auch weil er die beißende Macht der Vorurteile aus seinem eigenen Leben zwischen den Welten kennt. Als Kind eines türkischen Vaters und einer kurdischen Mutter besuchte er ein bischöfliches Gymnasium im Bistum Essen und war der einzige Muslim in seiner Klasse. Von seinen Kumpels wurde er dafür beschimpft. Frei und anschaulich erzählt Burak Yilmaz nicht nur von diesem Schlüsselerlebnis, sondern auch von anderen lebensbedeutsamen Erfahrungen mit Alltagsrassismus.

Der hässliche Antisemitismus sei nie untergegangen

Dabei legte er aber besonderen Wert darauf zu betonen, dass antisemitische Vorstellungen keinesfalls nur unter (jungen) Muslimen kursieren. Der ebenso hässliche deutsche Antisemitismus, den er auf dem Fußballplatz kennengelernt habe, sei entgegen aller Hoffnungen selbst bei den Nachgeborenen der jüngsten Generation niemals untergegangen und werde allzu oft als (regional spezifisches) Problem sozial deklassierter Schichten abgetan oder öffentlich verschwiegen. Dass es auch anders geht, illustrierte Burak Yilmaz an der Person seines Geschichtslehrers, der die Nazi-Diktatur nicht wie andere in seinem Unterricht übersprungen, sondern die Schüler*innen biographisch in die Auseinandersetzung mit ihr verwickelt habe. Dadurch hätten sie verstehen können, dass die Nazi-Vergangenheit – in Gestalt z.B. eines Großvaters, der freiwillig der SS beigetreten war – noch immer ein Teil ihres Lebens ist. Wie wichtig die schonungslose Arbeit an der eigenen Biographie ist, verdeutlichte Burak Yilmaz, indem er mehrere Passagen aus seinem Buch „Ehrensache. Kämpfen gegen Judenhass“ las und dabei auch Möglichkeiten vorstellte, wie Antisemitismus und Rassismus wirksam entgegenzutreten ist – nicht nur mit großen Initiativen, sondern auch im Kleinen, und sei es nur bei einem Abend, an dem ein markiger judenfeindlicher Trinkspruch gebrüllt wird. In der regen und z.T. sehr persönlichen Diskussion erhielt Burak Yilmaz viel Anerkennung für seine Arbeit und seinen Vortrag: „Ich bewundere sie für Ihren Mut!“ - so eine Teilnehmerin. An diesem Abend war sie damit nicht die einzige. 


Wir danken dem Kulturbetrieb der Stadt Aachen, insbesondere Olaf Müller, der Stiftung Internationaler Karlspreis, der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen, vertreten durch Dr. Angela Reinders und Dr. Laura Büttgen, sowie der Walter Hasenclever-Gesellschaft, vor allem ihrem Vorsitzenden Axel Schneider, für die gelungenen Kooperationen. Ein herzlicher Dank geht auch an die beiden Buchhandlungen „Schmetz am Dom“ und „Das Worthaus“ für die Zusammenstellung der Büchertische zu den Veranstaltungen. Es ist wunderbar und keineswegs selbstverständlich, dass mit ihrer aller Unterstützung zwei solch anregende Abende im KI möglich geworden sind.