Bereits Ende der 90er Jahre entdeckte ich Pablo Nerudas ungewöhnliches „Buch der Fragen“. Denn eine chilenische Grundschullehrerin hatte einige seiner Fragen 8-9 jährigen Kindern vorgelegt, zauberhafte Antworten von ihnen bekommen und Marty Brito hat beides in ihrem bibliophilen Buch „Wohin gehen die geträumten Dinge?“ (Atlantik Verlag, Bremen1997, leider vergriffen) mit eigenen poetischen Bildern gestaltet. So findet ein Kind zur Frage „Wenn all die Flüsse doch süß sind, woher hat das Meer soviel Salz?“ die Antwort „Von den Tränen der armen Menschen“.
Nun endlich und erstmals gibt es „Das Buch der Fragen“ von Pablo Neruda, das erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde und wenig bekannt ist, als Einzelband, mit zarten Bildern von Maria Guitart assoziativ erweitert. Es ist ein kleiner Schatz für große Entdeckungen, eine Sammlung nur aus Fragen ohne Antworten. Die Fragen überraschen und irritieren, sind mal surrealistisch, mal rhetorisch, mal philosophisch, vor allem aber poetisch. „Wo ist das Kind, das ich einst war, noch in mir drinnen oder fort?“ – „Wen kann ich wohl befragen, wozu ich auf die Welt kam?“ „Warum begreifen Arme nichts, sobald sie nicht mehr arm sind?“ – „Warum reiht sich der Donnerstag nicht nach dem Freitag ein?“ - Wer jauchzte da vor Freude, als auf die Welt das Blau kam?“
Viele Fragen Pablo Nerudas laden zum (oft kindlichen) Perspektivwechsel ein und berühren die Mysterien von Welt und Leben. Nicht wenige inspirieren zu poetischen Antworten. Das durfte ich vor Jahren schon mit Kindern erfahren. Auch unseren Grundschulkindern fielen poetische und originelle Antworten ein (in: R. Oberthür, Die Seele ist eine Sonne, München 2000, S. 136ff).
Zur Frage „Warum vergießen Wolken so viele Tränen und werden dabei immer froher?“ schreiben zwei Kinder: „Wolken vergießen ihre Trauer und schenken dadurch Fröhlichkeit.“ „Weil sie ihre Last los werden. Das ist so wie bei Menschen.“ Pablo Neruda fragt: „Warum bin ich nicht als Rätsel geboren?“ Drei Kinder schlagen vor: „Damit man sich nicht den Kopf zerbricht, wenn man mich sieht.“ „Weil Gott allem eine Bedeutung gegeben hat.“ „Weil Gott dir die Gestalt eines Menschen gab.“
Auch die Frage „Wo ist der Regenbogen zu Ende, in deiner Seele oder am Horizont?“ bringt die Kinder auf poetische Antworten: „Am Horizont kommt der Regenbogen zum Vorschein und in meiner Seele kommt er dann in Frieden an.“ „Der Regenbogen endet in der Seele und verkümmert, wenn man ihn nicht mit Fröhlichkeit füttert.“ Am besten gefällt mir die Antwort: „Im Horizont von deiner Seele!“
Es war wohl nicht unwichtig, dass ich die Kinder zu besonderen Antworten ermutigt hatte, indem ich formulierte: „Der chilenische Dichter Pablo Neruda schrieb kurz vor seinem Tod ein ‚Buch der Fragen‘. Mit fast 70 Jahren und bereits sterbenskrank stellt er Fragen, wie sie eigentlich nur Kinder stellen können. Findest du dich in diesen Fragen wieder? Fällt dir zu einigen der Fragen eine Antwort ein? Wenn du dem Dichter als Kind antwortest, wirst du vielleicht selbst zum Dichter!“
Zur Frage nach dem „Kind, das ich einst war“ (s.o.), meinen drei Kinder: „Es ist in dir, es ist nur schwer zu finden.“ „Das Kind, was du gewesen bist, bist du auch heute noch.“ „Es ist gegangen, doch im Innern geblieben.“ Lassen wir uns beschenken und beglücken: von Pablo Nerudas Fragen wie auch von den Perspektiven der Kinder!
Pablo Neruda: Das Buch der Fragen. Gedichte, mit Illustrationen von Maria Guitart, übersetzt von Susanne Lange, 104 Seiten, 18,00 €, Luchterhand, ISBN: 978-3-630-87659-7