Das Bistum Aachen im Nationalsozialismus

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(c) Einhard Verlag
Datum:
Di. 21. März 2023
Von:
Alexander Schüller

Das Bistum Aachen im Nationalsozialismus. Eine Spurensuche in Biographien und Ereignissen. Bearbeitet von Helmut Rönz und Keywan Klaus Münster in Verbindung mit Alena Saam, René Schulz, Sebastian Tietz. Eine gemeinsame Publikation des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen und des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte. Aachen: Einhard 2023 (Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs; 52), ISBN 978-3-943748-71-0, 29,90 Euro

Als Präsenz- und Ausleihexemplar in der Diözesanbibliothek vorhanden (Signatur F010 002 bzw. F010 003)

„Nur wer den Verstand verloren hat, kann als Katholik Nationalsozialist sein.“ Schärfer als der Volksverein für das katholische Deutschland, der diesen Satz 1930 auf eines seiner Flugblätter drucken ließ, lässt sich nicht zum Ausdruck bringen, wie sehr Kreuz und Hakenkreuz einander widersprechen.
Das neue Buch „Das Bistum Aachen im Nationalsozialismus“, erschienen in der Reihe „Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs“, führt eindrucksvoll vor Augen, dass die katholische Kirche im Bistum Aachen dennoch keine Widerstandsorganisation gewesen ist. Auch hier gab es wie in vielen Gegenden Deutschlands Menschen, die katholisch erzogen worden waren, sich sogar zum Dienst in der Kirche berufen fühlten und die doch nicht bei Verstand waren – oder schlimmer noch: die wähnten, es sei verstandesmäßig, sich vom christlichen Glauben abzuwenden und den Nationalsozialisten anzuschließen. 

Carl Zenner, katholisch erzogen und 1926 unter den ersten SS-Mitgliedern, war so ein Fall. Am 9. November 1938, um vier Uhr nachts, stand er als amtierender Aachener Polizeipräsident vor der brennenden Synagoge – und tat nichts. Mehr noch: Er befahl seinen SS-Männern, jüdische Geschäfte und Wohnungen zu verwüsten. Als 1941 der „Klostersturm“ die Abtei Maria Laach treffen sollte, versuchte Zenner plötzlich eine Verwüstung zu verhindern – nicht aber, weil sich seine Überzeugungen gewandelt hätten, sondern aus egoistischer Nostalgie. Denn er hatte ihn der Abtei geheiratet. Bei Menschen zeigte Zenner im weiteren Verlauf des Krieges weniger Rücksicht.
Als SS- und Polizeiführer in Weißrussland wirkte er an der Ermordung von über 6000 Juden mit. Dafür wurde er als Kriegsverbrecher zu 15 Jahren Haft verurteilt. Bis zu seinem Tod blieb er gleichwohl von der nationalsozialistischen Ideologie überzeugt. Auch Franz Binz zählte zu den Profiteuren der Nazi-Diktatur. Nach dem Ersten Weltkrieg irrte er richtungslos umher, wandte sich der SPD zu, trat aus der katholischen Kirche aus, wurde später Mitglied der evangelischen Kirche, aus der er ebenso austrat. Zu diesem Zeitpunkt war er schon seit neun Jahren Mitglied der Hitler-Partei, die ihm den ersehnten gesellschaftlichen und politischen Aufstieg ermöglichte. Binz wurde NSDAP-Kreisleiter von Schleiden und Kommandeur der Ordensburg Vogelsang, 1943 schließlich Obersturmbannführer. 

Für das Buch ist Binz eine nicht unwichtige Figur. Denn die Autoren, beteiligt am LVR-Forschungsprojekt „Widerstand im Rheinland 1933-1945“, knüpfen an eine Ausstellung auf Burg Vogelsang an, die denselben Titel trägt wie ihr Buch und denselben Ansatz verfolgt. Denn auch die Autoren möchten keinesfalls nur überzeugte Nationalsozialisten präsentieren, sondern – wie Helmut Rönz in seinem einleitenden Beitrag betont – eine „inhaltlich repräsentative Auswahl“ von Katholik/innen, die auf dem Gebiet des Bistums Aachen wirkten oder wenigstens zeitweise hier ihre Spuren hinterlassen haben. Zur angestrebten Repräsentativität des Buches gehört auch, dass die Autoren kein einseitiges Bild des Bistums während der zwölfjährigen Diktatur entwerfen, sondern die „Grautöne der Geschichte“ zu zeigen versuchen.

Jene „Zumutung von Ambivalenzen“, die Dietmar Jordan in seiner Eröffnungsrede der Vogelsanger Ausstellung attestierte – sie kennzeichnet auch das Buch. Unter den 19 Personen, die das Buch vorstellt, finden sich deshalb nicht nur stramme antisemitische Überzeugungstäter, sondern auch schillernde Figuren wie Pater Thomas Michels, geboren in Krefeld und viele Jahre Leiter der Salzburger Hochschulwochen, der die Nazis zwar ablehnte, aber den autoritären Ständestaat österreichischer Prägung für das Ideal eines christlichen Staatswesens hielt und noch auf der Flucht in die USA ein blutverschmiertes Stück vom Hemd des ermordeten österreichischen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß bei sich trug. Auch finden sich in dem Buch beleibe nicht nur historisch bekannte Persönlichkeiten. Natürlich darf der Aachener Oberbürgermeister Franz Oppenhoff ebenso wenig fehlen wie die Bischöfe Joseph Vogt, Hermann Joseph Sträter und Joseph van der Velden. Aber die Autoren zeigen uns auch Menschen, deren Namen sich bisher eher weniger in den Geschichtsbüchern finden wie Pater Clemens von Birgelen, der als Gestapo-Informant tätig war und dabei als „durchaus zuverlässig“ galt. Oder den Bäckermeister Andreas Girkens, der in Mechernich als „Judenknecht“ verschriehen war, der verprügelt, schikaniert und so stark gefoltert wurde, dass er die Haft nur einen Monat überlebte. 

Es ist eine nicht zu unterschätzende Leistung der Autoren, dass sie gerade bei den historisch weniger bekannten Personen die verfügbare Literatur gründlich ausgewertet und dabei auch die „Kärrnerarbeit“ in den Archiven nicht gescheut haben. Ihre Darstellung ist in den biographischen Kapiteln ereignisgeschichtlich strukturiert. Auf eine einleitende Passage, in der die Haltung der Person zusammengefasst wird, folgt eine Skizze ihres Werdegangs. Die Motive, die die Personen zu ihrem jeweiligen Verhalten veranlassten, werden dabei meist – z.T. sicher auch wegen der spärlichen Quellen – nur kurz erwähnt. Pater Clemens z.B. scheint sich der Gestapo zur Verfügung gestellt zu haben, weil er, Mönch im Vaalser Kloster Mamelis, die katholische Geistlichkeit für die antideutsche Haltung der Bevölkerung des Grenzgebietes verantwortlich machte.

Zur ereignisgeschichtlichen Ausrichtung des Buches gehört auch, dass im zweiten Abschnitt einige historische Ereignisse rekonstruiert werden. Auch hier setzen die Autoren auf Repräsentativität: Die Verbreitung der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ im Bistum Aachen wird ebenso geschildert wie die Aachener „Reichspogromnacht“, die Heiligtumsfahrt 1937 oder – eher einen Prozess als ein einziges Ereignis bezeichnend – die Verbannung der katholischen Jugendverbände aus der Öffentlichkeit. Überhaupt zeigt sich im Ereignis-Teil des Buches beklemmend deutlich, dass gerade im Kampf um die Jugend – wie Helmut Rönz schreibt – „Hilfe und Feigheit“ so dicht beieinander lagen wie nirgends sonst. 

Das Buch, dessen Texte durch zahlreiche Abbildungen (Fotos, Dokumente) sinnvoll ergänzt werden, sei all denjenigen empfohlen, die sich für die Geschichte des Bistums Aachen interessieren oder die nach einer Möglichkeit suchen, das Unterrichtsvorhaben „Zwischen Anpassung und Widerstand - Kirche im Nationalsozialismus“ durch Beispiele aus der Lokalgeschichte zu bereichern und damit den Schüler/innen „nahe“ zu bringen. Sie alle werden in dem Buch viele interessante Funde machen und unter den Personen einige echte local heroes entdecken wie z.B. Pfarrer Theodor Brasse. Als entschiedener Gegner der Nazis ließ er sich nicht mundtot machen, wurde deshalb quer durchs Bistum von einer Stelle zur anderen versetzt und 1941 sogar für zwei Jahre im Konzentrationslager Dachau eingesperrt. Doch Brasse blieb standhaft, wie sehr man ihn auch anging, und forderte seine Zuhörer/innen in einer Predigt auf, ebenso standhaft zu bleiben: „Und wenn sie es alle tun, nein, ich kann es und tue es nicht, ich darf es nicht!“

Alexander Schüller, Aachen