Nein, neu ist die Titelfrage des schmalen Buches gewiss nicht, das Martin Ebner, emeritierter Neutestamentler an der Universität Bonn, jüngst als eine „Vergewisserung“ veröffentlicht hat. Sie wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert, nicht nur in theologischen Fachpublikationen, sondern zuletzt auch im Rahmen des Synodalen Wegs der katholischen (Erz-)Bistümer Deutschlands. Vor dem Hintergrund sinkender Priesterzahlen und der Missbrauchskrise stellt sich diese Frage heute allerdings schärfer als je zuvor.
Die Frage, ob die katholische Kirche Priester brauche, bedeutet deshalb – zugespitzt – immer auch, wofür die Kirche sie bräuchte. Für Liturgie, Lehre, Seelsorge, Leitung, Administration, Repräsentation? Für nur einige dieser Aufgaben oder alle zusammen oder überhaupt keine davon?
Martin Ebners Argumentation nimmt ihren Ausgang von einer Bestandsaufnahme: Der Priester besetze heute wie in früheren Zeiten die zentrale Position in der Gemeindeleitung und werde von vielen Gläubigen nach wie vor als „verlässliches Instrument der Übermittlung der göttlichen Gnade“ betrachtet. Zugleich jedoch habe die Aufdeckung zahlreicher Missbräuche, die katholische Geistliche an Kindern, Jugendlichen, Männern, Frauen und Schutzbefohlenen begangen haben, erschreckend deutlich gemacht, dass die Rede von einer sakramentalen Struktur der Kirche, gebunden an das Amt des Priesters, allzu lange und häufig dem Täterschutz gedient habe. Angesichts dieses Dilemmas zwischen bleibender und erschütterter Bedeutung des Priesters wirft Ebner die Titelfrage seines Büchleins auf und sucht zu ihrer Beantwortung „Argumentationsstoff“ aus den Urdokumenten“ des christlichen Glaubens zu gewinnen. Für ihn, den Bibelwissenschaftler, ist das Neue Testament dabei – so ein glücklich gewähltes Bild – wie ein Spiegel, in den man zwar rückwärts schaut, aber den Weg vor sich sieht.
Nach dieser einleitenden Diagnose schickt sich Ebner an, seine Argumentation in dreizehn Kapiteln pointiert zu entfalten. Zunächst arbeitet er heraus, dass es in den frühen Christengemeinden zwar eine „ganze Palette von möglichen Organisationsformen und Ämtern“ gegeben habe, Priester als Angehörige eines Standes mit klar festgelegten Vorrechten aber nicht vorgesehen gewesen seien. Deshalb wendet sich Ebner auf seiner Suche nach den Ursprüngen des christlichen Klerus – in Form eines fokussierten Seitenblicks – dem Judentum zu und zeigt, dass die Priesterclans oder genauer: die Priesteraristokraten als rituelle Vermittler der Kommunikation mit Gott zentrale Bedeutung für den Tempelkult besessen haben. Um Seelsorge, Lebensbegleitung, Beratung hätten sich die priesterlichen „Kultmanager“ nicht gekümmert. Ihre Hauptaufgabe habe vielmehr darin bestanden, die korrekte Durchführung der Tieropfer sicherzustellen und dadurch für die Sünder Vergebung zu erwirken. Denn die Tiere starben bekanntlich stellvertretend für denjenigen, der seine Sünden durch Handauflegung zuvor auf sie übertrug. Er konnte das Opfer aber nicht selbst vollziehen, sondern musste es den Priestern überlassen. Denn durch Geburt zu ihrem Dienst auserwählt, waren allein die Priester berechtigt, Gott nahe zu kommen, näher als alle übrigen Menschen. Damit sei nun im frühen Christentum Schluss gewesen. Die älteste Taufformel habe auf revolutionäre Weise von einer Kategorisierung der Menschen abgesehen. Und damit nicht genug: Der Heilstod Jesu, so Ebner, bedeute nichts anderes, als dass der Priester als Mittler zwischen Gott und den Menschen, als herausgehobene Person, überflüssig geworden sei. Die Entsühnung, die der Priester im Tempel ritualisiert, durch Tieropfer und Blutbesprengung, zu vermitteln suchte, habe Gott durch den Tod Jesu ein für allemal und für alle Menschen bewirkt; der Kultort sei dadurch im frühen Christentum „personalisiert“ worden.
In Anknüpfung an Georg Schöllgen, seinen emeritierten Bonner Kollegen, kommt Ebner abschließend zu dem Befund, dass die Entwicklung des Klerus ein „Bruch in der Geschichte des Christentums“ sei. Die Geschwisterlichkeit aller Glaubenden sei zugunsten einer Zwei-Stände-Gesellschaft beseitigt worden. Die Bischöfe und Presbyter hätten sich dabei bewusst in die Tradition der jüdischen Priesteraristokratie gestellt, da sie dadurch beanspruchen konnten, wie die Leviten von den Gemeinden den Zehnt zu erhalten. Ebners Fazit ist ebenso kurz wie provokant formuliert: „Der Priesterstand ist ein Implantat ins Christentum“, das sich im Laufe seiner Geschichte „verpriesterlicht“ habe. Heute komme es darauf an, diesen Bruch rückgängig zu machen und die Aufgaben, die bisher der Priester übernommen habe, mehreren Personen anzuvertrauen.
Man könnte Ebner vorhalten, dass der Blick auf das Neue Testament gerade bei der Frage nach der Notwendigkeit des Priestertums um weitere Perspektiven ergänzt werden müsste, um zu einem differenzierten Urteil zu gelangen: um die Perspektiven der Kirchen- und Dogmenhistoriker, der Kirchenrechtler und Pastoraltheologen. Ebner geht es in seinem Buch aber vor allem darum, das Argument zu entkräften, dass der Priesterstand biblische Wurzeln habe – ein Argument, das in einschlägigen Diskussionen immer wieder auftaucht. Und das gelingt ihm eindrucksvoll. Doch Ebner blickt keineswegs nur zurück, auf einen verlorenen Urzustand, der nicht mehr herstellbar ist. Im Gegenteil: Die Organisationsstrukturen der frühen Christengemeinden sind für ihn der entscheidende Orientierungspunkt, etwa im Sinne von Hubert Wolfs „Krypta“, der aus der Vergangenheit in die Zukunft weist und erkennen lässt, welche Möglichkeiten in der Geschichte des Christentums, gerade in der frühen Zeit, verborgen liegen. Ebners Buch eignet sich für alle, die sich in der Frage, ob die katholische Kirche Priester brauche, konzis und engagiert informieren lassen wollen und die Freude an einem Autor haben, der keine Gefangene macht. Die sprachlich klare und klug akzentuierte Darstellung prädisponiert das Buch dafür, zumindest passagenweise im Unterricht eingesetzt zu werden.
Alexander Schüller
Martin Ebner: Braucht die katholische Kirche Priester? Eine Vergewisserung aus dem Neuen Testament. Würzburg: Echter 2022; 9,90 Euro, ISBN 978-3-429-05768-8
Das Buch ist in der Diözesanbibliothek unter der Signatur 71 739 entleihbar.