Braucht Demokratie Religion?

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(c) Kösel Verlag
Datum:
Di. 12. Sept. 2023
Von:
Alexander Schüller

Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis. Basierend auf einem Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang 2022. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi. München: Kösel 82023, 75 S., ISBN 978-3-466-37303-1; 12,00 €.

Entleihbar in der Diözesanbibliothek unter Signatur 71 823.


Braucht Demokratie Religion? In Zeiten, in denen die Mehrheit der Deutschen keiner der beiden großen christlichen Kirchen mehr angehört und die Kirchen sich in einer tiefen Krise befinden, würden vermutlich nicht wenige Menschen diese Frage mit „Nein“ beantworten.

Unsere Demokratie funktioniert ganz gut ohne religiösen Bezüge, könnten sie sagen, immerhin habe eine größere Zahl der aktuellen Minister ihren Amtseid ohne Gottesbezug geleistet – und das mache ihre Arbeit weder besser noch schlechter. Überhaupt müsse man ja nur in die Vereinigten Staaten schauen, um zu erkennen, dass Religion (im Gewand des Fundamentalismus) nicht eben förderlich für demokratische Prozesse sein könne, ganz zu schweigen von antidemokratischen Gottesstaaten oder heiligen Hierarchien. 


Nur Religionen können Moral- und Wertvorstellungen prägen

Gregor Gysi, der von sich selbst sagt, nicht an Gott zu glauben, ist da anderer Auffassung. Es sei ihm wichtig, schreibt er im Vorwort zum oben genannten Buch, „dass der befreiende Gehalt religiöser Ideen, auch wenn er erst in einer Religionskritik sichtbar werden sollte, nicht verloren geht.“ (S. 13) Nur die Religionen könnten grundlegende Moral- und Wertvorstellungen gesellschaftlich allgemeinverbindlich prägen. Dieser Meinung ist auch Hartmut Rosa, der bekannte Soziologe und bekennende Christ. Er fragt deshalb nicht, ob Demokratie Religion brauche, sondern er ist überzeugt, dass Religion für die Demokratie von unersetzlicher Bedeutung sei. Diese Überzeugung möchte er in seinem Vortrag erläutern. Seine Ausführungen sind anregend und dank des Vortragstils auch eingängig, fern jedes komplizierten Soziologen-Jargons. Wen die Frage nach dem Zusammenhang von Demokratie und Religion interessiert und wer nach einer Zusammenfassung von Rosas Resonanztheorie auf wenigen Seiten sucht, der ist mit diesem Büchlein bestens bedient.


Die Gesellschaft befindet sich in einer Krise

Rosa geht in seiner Argumentation davon aus, dass sich unsere Gesellschaft in einer Krise befinde. Sie sei zu permanenter Beschleunigung gezwungen; dazu, sich ökonomisch und technisch fortwährend zu steigern. Oder noch schärfer ausgedrückt: Während frühere Gesellschaften ihren Erfindergeist darauf verwandten, weniger Energie für ein bestimmtes Ziel aufzuwenden oder mit derselben Energie mehr Ertrag zu erreichen, sei unsere Gesellschaft genötigt, immer mehr Energie aufzuwenden – und zwar nur, um das Bestehende zu erhalten; Rosa nennt das – mit einer glücklichen Wendung – den „rasenden Stillstand“. Jedes Jahr schneller werden – das begründet für ihn ein Aggressionsverhältnis zur Welt: in der Industrie, die die Natur ausbeutet, in der Politik, in der die Opponenten immer schärfer aneinandergeraten und sich gegenseitig den Mund verbieten, oder bei all jenen Menschen, die sich immer nur fragen: Was habe ich davon? Was will ich noch erreichen?

Führt zu einem Gefühl der Unzufriedenheit
Wie lange soll, wie lange kann das so gehen? Und wohin wird es führen? Für Rosa führt es schon jetzt zu einem Gefühl der Unzufriedenheit, des Nicht-genügen-Könnens. Dieser Entwicklung möchte er entgegenwirken, weil er der Ansicht ist, dass Demokratie im Aggressionsmodus nicht funktioniert; sie benötige vielmehr Menschen, die spüren, dass sie eine Stimme haben und dass sie auch gehört werden; kurzum: dass sie die Erfahrung eines ‚hörenden Herzens‘ machen. An dieser Stelle bringt Rosa seine Resonanztheorie ins Spiel: Die Gesellschaft bedürfe der Fähigkeit, sich anrufen zu lassen, resonant zu werden und dadurch in ein anderes Weltverhältnis zu treten.

Vier entscheidende Momente

Vier Momente seien dafür entscheidend: Affizierung, Selbstwirksamkeit, Transformation und Unverfügbarkeit. Um in dieses andere Weltverhältnis hineinzukommen, sind nun nach Rosa bestimmte Räume erforderlich, und gerade die Religion könne (auf allerdings nicht planbare, eben unverfügbare Weise) diese notwendigen Räume eröffnen. Darüber hinaus besitze sie ein immenses Reservoir an Ideen und Riten, an Liedern und Traditionen, die dem Menschen verdeutlichen, was es heiße, sich anrufen und transformieren zu lassen. So könne uns Religion zeigen, dass „eine andere Weltbeziehung als die steigerungsorientierte, auf Verfügbarmachung zielende möglich ist.“ (S. 67) Mehr noch: Religion gebe uns ein „vertikales Resonanzversprechen“; sie eröffne dem Menschen eine Antwortbeziehung – zu einem höheren Wesen, dem der Mensch nicht egal sei: Oder wie der Herr bei Jesaja spricht: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“


Alexander Schüller