Aus der Liebe leben

Lesenswert

(c) Patmos Verlag
Datum:
Mi. 13. März 2024
Von:
Alexander Schüller

Eugen Drewermann, Heribert Körlings: Aus der Liebe leben – Ein Gespräch mit Heribert Körlings über Leben und Tod. Eugen Drewermann antwortet jungen Menschen. Ostfildern: Patmos Verlag 2024, 152 Seiten, 12,00 Euro; ISBN 978-3-8436-1385-9.


Das Buch ist in der Diözesanbibliothek einsehbar und entleihbar.

Kann der Glaube glücklich machen? Das ist nur eine von etlichen Fragen, die Eugen Drewermann in einem neuen Gesprächsband aus der im Patmos-Verlag erscheinenden Reihe „Eugen Drewermann antwortet jungen Menschen“ (bisher 2021: „Gott, wo bist Du?“ und 2023: „Das Geheimnis des Jesus von Nazareth“) gestellt bekommt. Die Frage ist keine Frage, von der bloß anzunehmen wäre, dass sie einen 17jährigen beschäftigen könnte. Sie stammt tatsächlich von einem jungen Menschen und wurde Eugen Drewermann am 16. März 2023 zum ersten Mal gestellt, als er zu Besuch im Aachener Kaiser-Karls-Gymnasium war, um unter dem Motto „Was kommt auf uns zu?“ mit Schülerinnen und Schülern aus Religions- und Philosophiekursen der Sekundarstufe II zu sprechen.


Fragen der jungen Menschen
Heribert Körlings, pensionierter Lehrer am Kaiser-Karls-Gymnasium und Drewermann-Experte, hat die Fragen der jungen Menschen gesammelt und Eugen Drewermann drei Monate später erneut gestellt, zusammen mit anderen Fragen, die die Schülerfragen kontextualisieren oder vertiefen sollen und dabei vor allem ein Ziel verfolgen: den bleibenden Lebensbezug der christlichen Botschaft herauszuarbeiten – auch und gerade, aber keinesfalls nur für junge Menschen. Angesichts dessen ist es eine richtige Entscheidung, dass Heribert Körlings die Fragen der Schülerinnen und Schüler eigens ausgewiesen und zudem darauf verzichtet hat, sie inhaltlich oder stilistisch zu überarbeiten. Sie ist deshalb richtig, weil sie für Transparenz sorgt und die Schülerinnen und Schüler respektiert. Es ist darüber hinaus aber auch richtig, dass Herbert Körlings Eugen Drewermann mit zusätzlichen Fragen und Impulsen konfrontiert. Denn auf diese Weise entsteht ein echtes Gespräch, in dem sich die beiden die Bälle zuwerfen, statt aneinander vorbei zu monologisieren. Dass diese Gefahr auf Seiten Drewermanns durchaus besteht, zeigt sich in dem Buch daher an erfreulich wenigen Stellen.

Kann der Glaube glücklich machen? Die Frage macht bereits deutlich, dass es in dem Gesprächsband ums große Ganze geht – und, wie der Untertitel verheißt, an vielen Stellen in der Tat um Leben und Tod. Dass Drewermann auf die Frage antwortet, indem er zunächst den Begriff des Glücks definiert, dabei die „Nikomachische Ethik“ des Aristoteles ins Spiel bringt, schließlich auf die Geschichte der Verklärung Jesu (Mk 9,2-8.9) und die Bedeutung von Moses und Elias zu sprechen kommt, ist typisch für die Art seines Antwortens. Kurze und schnelle Aussagen sind von Drewermann nicht zu erwarten. Vielmehr muss man sich immer wieder darauf einlassen, seinen Assoziationsketten zu folgen und daraus gelegentlich selbst die Antwort auf die Ausgangsfrage zu extrahieren. Das ist manchmal mühsam, manchmal anspruchsvoll, zumeist aber inspirierend, da Drewermann jederzeit mühelos in der Lage ist, ein kulturgeschichtliches, identitätspsychologisches oder theologisches Panorama zu entfalten und en passant an die ein oder andere wichtige Stelle heranzuzoomen. Dass er dabei seine üblichen Gewährsleute aufruft (neben Aristoteles auch Dostojewksi, Nietzsche, Kierkegaard, Freud oder Adler) und auch von der ein oder anderen Erfahrung berichtet, die aus seinen Schriften oder der Biographie von Matthias Beier bekannt ist, fällt insgesamt nicht negativ ins Gewicht. Denn es ist beeindruckend, mit welcher Souveränität und Eleganz Drewermann erhellende Verbindungen zwischen Lebenswelt, Bibel, Philosophie und Psychoanalyse herzustellen vermag. 


Drewermanns lange Assoziationsketten

Dass man sich sogar in Drewermanns längsten Assoziationsketten zurechtfindet, ist vor allem seinem Gesprächspartner zu verdanken. Denn zum einen hat er die Fragen thematisch in drei großen Kapiteln geordnet, die wiederum aus zahlreichen Unterkapiteln bestehen, jeweils versehen mit einer eigenen Überschrift. Zum anderen versteht er sich selbst nicht als reiner Stichwortgeber, sondern versucht, das Gespräch zu steuern, etwa indem er Drewermanns vielschichtige Antworten pointiert zusammenfasst und dabei die Brücke zur nächsten Frage schlägt oder indem er bei Bedarf eine alternative Perspektive einbringt (gegen Drewermanns negative Sicht auf die kirchliche Seelsorge etwa positive Erfahrungen mit einer zugewandten Pastoral) oder auch, indem er Drewermann dazu bringt, Autoren zu kommentieren, die nicht zu seinen bevorzugten Referenzgebern gehören. Gerade diese Stellen, an denen man erleben kann, dass sich Drewermann aus seinem Gedankenkosmos herauslocken lässt und sich z.B. zu Aussagen Bölls und Horkheimers positioniert, gehören zu den spannendsten des Buches. An zwei Stellen ist Drewermann indes nicht zu bremsen; es sind seine Herzensthemen: Krieg und Frieden und Abschied von der Hölle. Überraschenderweise wissen seine Ausführungen gerade hier, wo er am engagiertesten spricht, am wenigsten zu überzeugen. Das hat viel damit zu tun, dass er unversehens anfängt zu generalisieren und einen Gegner für seine Invektiven konstruiert, der in der Realität nicht existiert, aber gerade als Konstrukt leicht zu kritisieren ist. So unterstellt er Bundeswehroffizieren in polemischer Weise, dass sie 18jährigen den Skrupel vor dem Töten auszureden und ihnen zugleich bedingungslosen Befehlsgehorsam einzutrichtern versuchen. Oder er kreidet Richtern an, dass sie nicht in das Herz des Angeklagten schauen, über den sie zu urteilen haben, sondern nur auf dessen Handlung. Hier schießt Drewermanns Anliegen, das das gesamte Gespräch bestimmt, über sein Ziel hinaus. Dieses Anliegen besteht darin, überlieferte und gegenwärtige Diskurse, Theorie und Praxis von Fehlentwicklungen zu reinigen oder, um ein Bild zu nutzen, das Drewermann selbst vorschlägt, wie Archäologen Schicht um Schicht tiefer zu graben, um die Botschaft Jesu neu zu entdecken.
 

Drewermann macht sich für den Blickwechsel stark
Der rote Faden dieser Botschaft und zugleich aller Antworten, die Drewermann im Gespräch assoziativ entwickelt, ist die Liebe, die er als bedingungslos gewordene Bejahung versteht. Sie allein animiert uns dazu, so Drewermanns Auffassung, andere Menschen von innen her verstehen zu wollen, auch ihre Schwächen und Irrtümer, und zugleich die eigenen Bedürfnisse besser kennenlernen zu wollen, um sich aus dem Korsett der Fremdbestimmung befreien zu können. Drewermann macht sich in diesem Zusammenhang für einen entscheidenden Blickwechsel stark: von der Horizontalen zur Vertikalen, vom eifersüchtigen Vergleich mit anderen Menschen zur vertrauensvollen Hinwendung nach oben: zu Gott, der alle Menschen liebevoll anblickt und sie einlädt, das Böse zu „überlieben“ und trotz aller irdischen Limitationen derjenige werden zu wollen, der man sein soll. Drewermanns Antwort auf die Frage nach dem Glückspotential des Glaubens mündet deshalb wieder in eine Frage: „Die eigentliche Frage auf dem Weg zum Glück, die ihre Herkunft aus dem Glauben deutlich verrät, lautet hingegen; ‚Wozu bin ich bestimmt? Was ist mein Wesen, was mein Auftrag, was meine Berufung?“ (S. 133) 

Das erste Kapitel des Buches skizziert diesen Weg zu sich selbst und ist für den vom Herausgeber empfohlenen Einsatz im Unterricht ab der Jahrgangsstufe 10 besonders gut geeignet. Denn es umkreist die Frage nach dem Zusammenhang von Identität und Beziehung auf vielerlei und für junge Menschen erkenntnisreiche Art: biographisch, philosophisch, existentiell. Auch die übrigen Kapitel des Buches lassen sich fast durchweg für den Unterricht nutzbar machen, auch wenn Drewermann an manchen Stellen die jungen Menschen als Adressaten seiner Antworten aus dem Blick verliert. Am wenigstens für die schulische Verwendung geeignet erscheinen Drewermanns Überlegungen zu Teufel und Hölle – Vorstellungen, die für junge Menschen kaum so bedeutsam sind, wie Drewermann vermeint, und die er ohnehin eher Exorzisten, Theologen und Frömmlern ankreidet als ihnen. Von deutlich höherer, sogar lebensbedeutsamer Relevanz ist indes ein anderer Gedanke Drewermanns, einer der schönsten des Buches: „‚Und als sie unterwegs waren, kam Jesus ihnen entgegen.‘ (Mt 28,9). Ich wüsste für das, was wir Christsein nennen, überhaupt kein besseres Bild.“ Auch dieser Gedanke ist eine Antwort – und was für eine! – auf die Frage, ob der Glaube glücklich machen kann.


Alexander Schüller