Karl-Josef Kuschel: Auf dem Seil. Franz Kafka. Eine Würdigung. Ostfildern: Verlagsgruppe Patmos 2024, 152 S., 18,00 €; ISBN 978-3-8436-1518-1.
Das Buch ist in der Diözesanbibliothek unter der Signatur 72 536 entleihbar.
In seiner Würdigung anlässlich des 100. Todestages Franz Kafkas erschließt Karl-Josef Kuschel zentrale Aspekte seines Denkens und seines literarischen Schaffens. Er vergegenwärtigt Kafkas Einstellung zur jüdischen Glaubenstradition und deren Aktualität vor dem Hintergrund der Gottesfinsternis in einer unerlösten Welt.
Der Frage nach der Bedeutung von „kafkaesk“ (1. Kapitel) folgen exemplarische Ausführungen zur Eigenart der Personen in Kafkas Werk, zu ihrer Situation und zu ihren Konflikten. Als subtiler Autor der Abgründigkeit stellt Kafkas Erzählen immer neu jeweils präzisere, existentiell grundlegende Fragen, demonstriert anhand konkreter Alltagssituationen. Besonders intensiv spiegelt sich der Konflikt zwischen einem bürgerlichen Leben in Beruf und Ehe und dem Bewusstsein der Berufung zum Künstler (2. – 8. Kapitel). Außer dem Riss zwischen bürgerlicher und künstlerischer Existenz gibt es für Kafka den Riss als Angehöriger des jüdischen Volkes. Dieser besteht in der Bodenlosigkeit zwischen Tradition und Moderne.
Diese Situation wird in der Familie in der Beziehung zwischen Kafka und seinem Vater zugespitzt. Dennoch bleibt Kafka Affinität zum Judentum bestehen. Im Kontext des Prager Kulturzionismus wird er auf das jiddische Theaterleben aufmerksam, schließt Freundschaft mit Jizchak Löwy, hört Vorträge Martin Bubers und interessiert sich für dessen Auswahl chassidischer Erzählungen. Indem Kafka Gedanken und Bilder daraus indirekt aufnimmt, bekundet er seine ferne Nähe zum Judentum (9. – 11. Kapitel). Diese zeigt sich in Kafkas Werk exemplarisch an der Türhüterlegende „Vor dem Gesetz“ und in weiteren Zeugnissen der späten Schaffensperiode (12. – 14. Kapitel). Zu Kafka gehört zudem sein Interesse an der Bibel. Die Bedeutung von Aussagen des ‚Alten Testaments‘ im Kontext eines Gesprächs über Leben und Tod geht aus Aufzeichnungen und Aphorismen hervor (15. Kapitel). Kafkas Hingezogenheit zum Judentum zeigt sich nicht zuletzt an dem Vorhaben, mit Dora Diamant nach Palästina auszuwandern (16. Kapitel), das er nicht mehr realisieren konnte. Kafkas heute zu gedenken, heißt sich im Licht seines Werkes mit Charakteristika der eigenen aktuellen Situation auseinanderzusetzen (17. Kapitel). Beispielhaft dafür könne Martin Buber sein, für den Kafkas Werk auch das Leben mit der Verborgenheit Gottes als Geborgenheit in der Krise Gottesfinsternis zum Ausdruck bringe (20. Kapitel), Ausdruck der jüdischen ‚Emuna‘, des Vertrauens zu Gott, trotz allem…Ausführungen über Kafkas Humor, eine Anekdote über sein Lachen und dessen Bedeutung, setzen am Ende des Buches einen heiteren Akzent (21. Kapitel).
Kuschels klar strukturierte, prägnante, flüssig lesbare Darstellung lädt einen breiten Kreis unterschiedlicher Adressat*innen dazu ein, dem jüdischen Autor Franz Kafka zu begegnen. Das Buch bietet vielfältige, interessante Anstöße, sich eingehender mit Kafkas Sprachkunst und mit seiner Gedankenwelt zu beschäftigen.
Provozierende Lebens- und Glaubensfragen bleiben. Lasse ich mich in Frage stellen?
Heribert Körlings (Herzogenrath)