Anders leben. Kafka und Dora Diamant

Lesenswert

(c) Ebersbach und Simon
Datum:
Di. 23. Apr. 2024
Von:
Alexander Schüller

Dieter Lamping: Anders leben. Franz Kafka und Dora Diamant. Mit Grafiken von Simone Frieling. Berlin: Ebersbach & simon 22024. 141 S., 20,00 €. ISBN 978-3-86915-289-9.

Das Buch kann in der Religionspädagogischen Medienstelle eingesehen und ausgeliehen werden.

Der deutsch-österreichische Kinofilm „Die Herrlichkeit des Lebens“, basierend auf dem gleichnamigen Bestseller von Michael Kumpfmüller, widmet sich der letzten Liebe des einstigen Prager Juristen und heutigen Giganten unter den Dichtern des vergangenen Jahrhunderts, Franz Kafka, der am 03.06.1924 im Wiener „Sanatorium Hoffmann“ an Tuberkulose verstorben ist – vor genau einhundert Jahren. 

In Deutschland haben den Film, in dem Sabin Tambrea und Henriette Confurius die beiden Hauptfiguren spielen, bereits etliche Menschen gesehen, und auch die Kritiker haben sich wohlwollend geäußert. Sie halten den Film für einen herausragenden Beitrag zum Kafka-Jahr, das die ARD mit einer Fernsehserie und die Verlage mit zahlreichen neuen oder frisch aufgelegten Publikationen zelebrieren.

Kafkas Liebe zu Dora Diamant

Eine dieser Publikationen, erschienen im Kleinverlag ebersbach & simon, befasst sich wie Film und Roman ebenfalls mit Kafkas Liebe zu Dora Diamant. Der renommierte Komparatist Dieter Lamping, ehemals Professor an der Mainzer Universität und Spezialist u.a. für die deutsch-jüdische Literatur, hat Kafkas Tagebücher und Briefe und viele weitere Zeugnisse wie die Biografie Dora Diamants sowie die einschlägige Forschungsliteratur ausgewertet. In kompakter, eleganter Form, erzählt er wie sehr die letzte Liebe Kafka verändert hat. Diese These ist zugleich der Titel des Buches. Im Angesicht des Todes, der sich verschlimmernden Tuberkulose, sei es Kafka gelungen, so Lamping, seine Angst in den Griff zu bekommen und sein Leben zu ändern. Zum ersten Mal habe er einen Wohnsitz außerhalb Prags gewählt, zum ersten Mal mit einer Frau zusammen gelebt, zum ersten Mal eine Existenz geführt, nach der er sich lange gesehnt habe. Lamping erhärtet diese These, indem er Kafkas letztes Lebensjahr chronologisch abschreitet – mit gut dosierten Seitenblicken auf bisherige, gescheiterte Beziehungen wie etwa zur zweimaligen Verlobten Felice Bauer. Dabei arbeitet Lamping schon zu Beginn heraus, dass die Bedeutung Dora Diamants in der früheren Literatur erheblich unterschätzt wurde, nicht zuletzt, weil man sie lange nur aus Max Brods spärlicher Schilderung kannte. Doch ihre Bedeutung könne gar nicht höher sein, meint Lamping; sie sei die einzige Frau, die Kafka geliebt habe - und die Zeit, die sie in Berlin gemeinsam lebten, sei die glücklichste in Kafkas Leben gewesen – wenngleich unter dem Druck der Inflation finanziell so herausfordernd, dass Kafka die Arztbesuche auf das Nötigste beschränken musste und sich nur selten ins teure Berliner Zentrum begeben habe. 

Was aber zog ihn an Dora Diamant so an, dass er in den letzten Monaten sein Leben zu ändern vermochte? Nach Lamping war es vor allem die orthodoxe Lebensweise Doras, die den vom Ostjudentum seit 1911 faszinierten Kafka an der immerhin siebzehn Jahre jüngeren Frau anzog und sogar künstlerisch beflügelte. Bald sah er sich sogar in der Lage, trotz seiner Krankheit ein wenig zu arbeiten. Es entstand „Der Bau“ und vor allem sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch „Ein Hungerkünstler“. Nachdem Kafkas Briefe an Felice Bauer noch um die Unvereinbarkeit von Ehe, Familie und Schreiben gekreist waren, erlebte er in der Beziehung zu Dora etwas für ihn Unglaubliches: dass er Liebe und Schreiben vereinbaren konnte. Sein „etwas freieres Leben“ war aber nach knapp sechs Monaten vorbei, da er Berlin verlassen und sich zur weiteren Behandlung nach Prag begeben musste. Auch wenn sich Lamping mehr auf Kafka, dessen Tagesablauf und Besucher, konzentriert als auf Dora und sich weitgehend auf die neueren Forschungen z.B. von Reiner Stach und Kathi Diamant stützt, hat er mit „Anders leben“ doch eine lesenswerte biografische Miniatur zum Kafka-Jahr verfasst. Das Buch sei all denen empfohlen, die auf gut lesbare Weise vertiefen wollen, was sie im Film oder im Roman über Kafkas letzte Liebe erfahren haben.

Alexander Schüller