Lisa ist tot, und Tony lebt. So einfach ist das, und so schlimm. Denn Lisa und Tony waren ein Liebespaar. Kein durchschnittliches Paar, versteht sich, sondern eines von der Sorte, die vor akutem Glück geradezu platzen. Eines von der Sorte, denen selbst in ihren besten Jahren kein Mundgeruch, keine Altersschrulle und kein seelischer Missklang etwas anhaben konnte. Kurz, Lisa und Tony waren das perfekte Paar.
Aber dann, aus heiterem Himmel, kam der Brustkrebs, und jetzt ist Lisa tot. Und Tony, erst Anfang 50, muss ohne sie weiterleben. Aber was heißt hier leben? Tony existiert bloß noch. Er trinkt, er raucht Gras, er isst wie sein Schäferhund Brandy aus Konservenbüchsen und lässt die traurigen Reste dieser Mahlzeiten in den Töpfen vergammeln. Er sucht das Leben, sein Leben, immer und immer wieder bei der Toten und findet es nicht. Manchmal verschärft sich das zur Krise auf Leben und Tod: Dann liegt Tony mit einer Rasierklinge am Handgelenk in der Badewanne oder mit einer halben Packung Schlaftabletten in der Faust auf dem Sofa. Doch aus dem Selbstmord, den er sich und anderen immer wieder ankündigt, wird nichts. Stattdessen sieht er sich auf dem Laptop jeden Abend Videos von Lisa an, weint dazu wie ein Kind und begreift immer weniger, warum sie nicht mehr da ist.
In der britischen Netflix-Serie After Life, deren Drehbuch aus der Feder ihres Hauptdarstellers Ricky Gervais stammt, scheinen sich die tröstenden Worte, dass das Leben immer weitergeht und die Zeit alle Wunden heilt, nicht zu bewahrheiten: Hier geht gar nichts weiter, hier wird gar nichts geheilt. Das Leben ist am Tag von Lisas Tod für Tony zum Stillstand gekommen. Seither gibt es nur noch die Wiederholung des Immergleichen: Aufstehen, dem Hund den Fressnapf unter die Schnauze schieben, im Büro der Redaktion die Zeit totschlagen, anderen mit wohlgesetzten Bosheiten ein wenig die Laune vermiesen und abends im Wohnzimmer, nachdem alles so gelaufen ist, wie es immer läuft, das Licht löschen.
Das ist die nihilistische Grundkonstellation der Serie, und sie könnte – wie im Film Und täglich grüßt das Murmeltier, auf den mehrmals angespielt wird – ewig so weitergehen: das Leben nach dem Tod als Abfolge von Nichtigkeiten in höllischer Dauerrotation. Eine Erlösung, die Tony aus seiner Bindung an Lisa befreite, gibt es nicht; nicht mal eine neue Liebe ist in Sicht (natürlich: Emma; aber über die sei hier nichts verraten). Und als wäre das noch nicht genug, hat Tony auch noch einen alten Vater, der tagein, tagaus auf seinem Stuhl im Pflegeheim sitzt und, weil er Alzheimer hat, das meiste von dem, was ihm einmal lieb und teuer war, vergessen hat. Neben diesem Mann also, für den Lisa immer noch lebt, weil er sich ihres Sterbens nicht entsinnen kann, sitzt Tony jeden Nachmittag für ein paar Minuten und brütet und schweigt. Man sieht dann zwei Menschen, die auf je eigene Weise einfach weiterexistieren, die sich von der „schlechten Angewohnheit zu leben“ (Charles Dickens) nicht lösen können: der eine, weil er alles vergessen hat; der andere, weil er nichts vergessen kann.
So weit, so schlecht. Wäre da nicht alles andere. Denn Tonys eminente Trauer, sein zwanghaft umhegter Trauer-Fetisch, sein mal sauertöpfisches, mal tränenfeuchtes Beharren auf dem Unglück, das ihm widerfahren ist, all das ist ja nur die eine Seite der Geschichte. Die andere Seite besteht aus, wie Georg Büchner sagen würde, „optimistischem Zeug“. Und dieses optimistische Zeug ist im Detail so ergreifend gemacht, so liebenswürdig und humorvoll in Szene gesetzt, dass man als Zuschauer, dem der dunkle Grundton der Serie, ihr sinnverneinendes Ostinato nicht entgangen ist, für lange Augenblicke vergisst, was der Nihilist ja axiomatisch voraussetzt: dass der Mensch im Grunde seiner Natur ohne Hoffnung sei.
Nicht dass Tony an Gott glaubte oder an sonst eine religiöse Erlösungsdoktrin: Religion spielt in After Life, wie schon der aufgespaltene Titel überdeutlich vor Augen führt, nur mehr als ironisches Zitat, als leere Formel eine Rolle. Hin und wieder legt sie sich zwar noch, einem Phantombild gleich, über die Gesten und Sätze der Figuren, aber als Gegenstand des expliziten Nachdenkens ist sie liquidiert. Und dennoch ist alles, was immer da im Laufe der Serie an Figuren und Geschichten und Schicksalen vor der Kamera auffährt, getragen von der fundamentalen Gewissheit, dass man allein durch den mitfühlenden Blick und die Zuwendung eines anderen Menschen überhaupt erst selbst zum Menschen werde. Anders gesagt: Selbst- und Nächstenliebe gebe es nur in wechselseitiger Ermöglichung. Diese Gewissheit beherrscht zuletzt die Beziehung zwischen allen Figuren der Serie, und sie macht das Ganze, bei aller karikierenden Überzeichnung, bei allen schrägen Gags und Geschmacklosigkeiten, die da auch reichlich vorhanden sind, zu einem anrührenden Schauspiel auf der Bühne des Als-Ob postreligiöser Ethik.
Es ist denn auch kein Zufall, dass Tonys Job zu einem Großteil darin besteht, ein ganzes Heer von provinziellen Parias, von Langweilern, Versagern und Spinnern, von Leuten also, an die sich niemand jemals erinnern wird, durch sein journalistisches Schreiben wenigstens momentweise in das zu verwandeln, was sie in Wahrheit sind: in Menschen, die, eben weil sie Menschen sind, mehr Wert und Würde haben als unser Naserümpfen und unser reflexartiges Gelächter über sie.
Da ist, zum Beispiel, die Hobby-Wahrsagerin, die seit Jahrzehnten entsetzlich schlechte Arztromane schreibt und davon nicht abzubringen ist; da ist der verfettete und frustrierte Ehemann, der sich plötzlich als zwölfjähriges Mädchen fühlt und verkleidet; da ist der ungepflegte Brian, der inmitten von Müll und toten Mäusen wohnt und nicht viel mehr kann als Zoten reißen und Puppentheater spielen; da sind schließlich Tonys Kollegen aus der Zeitungsredaktion, denen allen der Weg zum Glück auf die eine oder andere Weise versperrt ist. Karikaturen sind sie alle, aber so charmant und lebendig gezeichnet, dass man ihnen es nicht übel nimmt.
Manchmal kapituliert die Serie allerdings vor ihrer letzten Endes lebensbejahenden Dialektik. Dann verwandelt sich Tony für Augenblicke in einen bösen Ebenezer Scrooge, der es allen anderen so schwer machen will, wie‘s ihm selbst ums Herz ist. Dann nimmt er Rache an den Menschen für den wühlenden Schmerz in seiner Brust, für die Trauer und Hoffnungslosigkeit, die ihn quälen und für die doch – muss man es eigens sagen? – niemand etwas kann: Einmal giftet er etwa einen jungen Vater an, der im Café ins Brabbeln seines Babys einstimmt, während er es füttert; dann wieder beleidigt und beschimpft und beschämt er andere wegen Kleinigkeiten: hier ein leises Schmatzen beim Essen, dort ein lautes Schnupfen beim Yoga-Kurs. Man gewinnt Tony weiß Gott nicht lieb während solcher Szenen. Aber auch das gehört wohl zu den vielen Absichten der Serie, dass man ihren Hauptdarsteller nie vollends, nie ohne letzte Vorbehalte ins Herz zu schließen vermag. Das Einverständnis zwischen ihm und dem Zuschauer, auf das die Sympathieführung ja überall sonst hinzielt, gelingt insbesondere dort nicht, wo Tony dem lebensmüden Junkie Julian ein Bündel Scheine in die Hand drückt, damit der sich die langersehnte Überdosis setzen kann (was er dann auch tut). Es ist einer der dunkelsten Erzählmomente der Serie, und man verwindet ihn bis zum Ende nicht: Hätte Tony nicht anders helfen können? Wäre es nicht ein Leichtes gewesen, Julian ein Freund zu sein und ihm dadurch Lebensmut zu schenken, zumal Tony das bei anderen ja spielend gelingt? Die Frage bleibt quälend offen, auch nach der Schlusseinstellung der dritten Staffel, wo das eschatologische Wiedersehen mit Lisa vorübergehend zum Ereignis wird. Oder war es doch nur wieder ein videographischer Trick: ein Phantombild eben?
Marco Schüller